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Ausgabe:

1977

Spalte:

610-612

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Emanuel Hirsch, Emil Brunner

Titel/Untertitel:

Paul Tillich, Pierre Teilhard de Chardin, Karl Jaspers 1977

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologisohe Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 8

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und Gesellschaft nicht lediglich neu interpretieren, sondern det sich sonderbarerweise mit einer weiteren Einengung,
verändern. Stärker als Luther wird Calvin in diese Rieh- welche der Intention rechter politischer Theologie eigent-
tung gedeutet (S. 225-241), doch auch bei ihm beschränkt lieh zuwiderläuft. Es wird ständig nur vom „Bußverständ-
die Verfasserin sich auf die systematischen Schriften und nis", von dem angemessenen Reden über die Buße, von
blendet die Versuche zu einer Konkretion der Beichtbuße der rechten Theorie gesprochen; die institutionalisierte
aus. Bei Calvin erfolge der Bußruf aufgrund des Evange- Praxis wird unverdrossen ausgeblendet, sie erscheint ledig-
liums und entfalte sich in einem erneuerten Gesetzes- lieh unter dem Verdikt: gesetzhafte Bindung an die Vergehorsam
, er sei deshalb primär der Heiligung zuzuordnen gangenheit, Hindernis für eine permanente Revolution
und ziele auf das ständig tiefergreifende Eingepflanztwer- auf eine stets offene Zukunft hin. Wie will jedoch das erden
in Jesus Christus ab. Die ekklesiale wie politische Di- hobene angeblich gemessene Verständnis biblischer Buße
mension jener Insitio in Christo wird leider nicht entfaltet, wirklichkeitsverändernd werden, wenn es sich nicht hin-
doch spitzt die Darstellung sich in der These zu, daß bei einwagt in institutionelle Konkretion? Ein neues VerCalvin
die Buße „zum erstenmal grundsätzlich" wenn frei- ständnis wird Kirche wie Welt solange nur uminterpretie-
lich auch noch kaum praktisch „in einem wesentlich ge- ren, wie es sich nicht inkarniert in institutioneller Gestalt ;
seilschaftlichen Bezug" verstanden werde (S. 241). erst hierdurch vermag es - wenn Gott Gnade dazu schenkt

Der dritte Abschnitt zum Verständnis der Buße in der - ein wenig zu verändern,
neueren Theologie (S 241-326) setzt bei August Hermann He|de, AUmcht ,,,,„.„
francke ein und schlägt den Bogen zur „neueren politischen
Theologie" ; die Brückenpfeiler zwischen den beiden
Ausgangs- und Endpunkten bilden Schleiermacher, Wilhelm
Herrmann und Karl Barth; der Gesamtduktus Neucnschwander, Ulrich: Denker des Glaubens, 11. Emanuel
möchte von einer pietistischen Verengung auf die Bekeh- Hirsch - Emil Brunner - Paul Tillich - Pierre Teilhard de
rung der Einzelseele zur Erneuerung der gesellschaftlichen Chanhn - Karl Jaspers. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Strukturen vorstoßen. Hierbei erscheint Karl Barth als g^1™ [1974]" 158 S' 8 = Gutersloher Taschenbucher, 87.
Drehpunkt; er habe „durch sein Verständnis der Buße als

ganzheitlicher Umkehr den Individualismus Wilhelm Auch der zweite Band zeichnet sich durch die gleichen
Herrmanns weit hinter sich gelassen" und sei „vorge- Vorzüge aus wie schon der erste, in ThLZ 12/74 bespro-
preschl in ein Denken, das insofern modern anmutet, als chene: pädagogisch meisterhafte Darstellung sowie Zuck
den Gesellschaftsbezug, in welchem der einzelne drin- verlässigkeit und Reichhaltigkeit der Information. Natür-
steht, mitzubeachten bereit ist" (S. 309). Freilich erst die lieh stellt sich insbesondere bei diesem zweiten Band die
politische Theologie dränge auf soziale Konkretionen jenes Frage nach den Kriterien der Auswahl der vorgestellten
permanenten Transzendierens alles Bestehenden und su- „Denker des Glaubens"; nimmt man zum Vergleich etwa
che hierzu nach Kriterien für eine christliche verantwort- die von H. J. Schultz herausgegebene Theologiegeschichte
bare Veränderung der Gesellschaft (S. 325f.). in Porträts „Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert"
Abschließende „Reflexionen zu einer Neufassung des zur Hand, könnte man natürlich fragen, warum etwa
evangelischen Bußverständnisses für die Gegenwart" Emanuel Hirsch und nicht Karl Heim oder Emil Brunner
(S. 327-364) zielen hin auf eine Buße als „ganzheitliche und nicht Paul Althaus ausgewählt wurden. Hier bleibt
Umkehr des Menschen zu Gott im Glauben, wodurch Ge- immer ein Ermessensspielraum, aber im übrigen ist
sinnung, Leben und Handeln dieses Mensehen und seiner Neuenschwander zuzugestehen, daß die von ihm getrof-
Urnwelt grundlegend verändert werden" (S. 329), unter- fene Auswahl durchaus überzeugend und natürlich auch -
streichen das „Prae des Evangeliums und der Gnade vor besonders bezüglich der Aufnahme von Karl Jaspers -für
Gesetz und Gericht" (S. 339), möchten aus einer perma- ihn charakteristisch ist.

nenten Buße die „permanente Revolution" hervorbrechen Es hätte wenig Sinn, die von Neuenschwander vorgelassen
(S. 341) und säkularisieren diese in die moderne Ge- stellten Denker nochmals abgekürzt zu charakterisieren,
Seilschaft hinein, deren Veränderung nur im Teamwork zumal sich die Zuverlässigkeit der Darstellung auch darin
von Theologen, Psychologen, Soziologen, Politologen, zeigt, daß es nicht möglich ist, eigenwillige, für Neuen-
Wirtschaftsfachleuten usw. usw. zu projektieren sei (S. schwander bezeichnende, aber den Dargestellten verzeich-
362); schließlich wird der Bogen doch noch zurückgeschla- nende Akzentsetzungen zu referieren, wenn auch durch-
8en zum bei den Seinen im Heiligen Geist gegenwärtigen aus bestimmte, charakteristische Anliegen die Darstellung
Herrn, welchem sich die Glaubenden in Verkündigung, mitbestimmen. Sie wurden in der Einleitung des ersten
Lobpreis, Danksagung und Bitte zuwenden. Bandes genannt und kommen auch in dein kurzen, aber
Dieses umfangreiche Opus verarbeitet ein weitschichti- m. E. bemerkenswerten Schlußwort „Zum Gespräch zwi-
8©a Material auf einem durchweg unbekannten Felde, hier- sehen Glauben und Unglauben" zum Ausdruck, auf das
für wird der Leser dankbar sein. Doch wird man bei allen daher noch etwas ausführlicher eingegangen sei.
Ausführungen die modernistische Verkürzung des Blick- Neuenschwander möchte den Unglauben „nicht in der
winkeis im Sinn behalten müssen, um nicht den angedeu- Person eines sogenannten Ungläubigen" im Sinne äußerer
teten Vorurteilen zu verfallen, welche das Ganze durch- Abgrenzung personifiziert sehen. „Vielmehr ist der Unlieben
. Die neuprotestantische Verflachung der Doppel- glaube in jedem Glaubenden als Möglichkeit selbst gegen-
these aus Luthers Freiheitstraktat: Gnadenindikativ und wärtig. Der Zweifel ist ein Element des Glaubens, und die
Gebotsimperativ, Evangelium und Gesetz als ständiger Wirklichkeit des Zweifels ist die Möglichkeit des Unglau-
Cberschritt von der Christuserneuerung zur Welt verant- bens, die je und je zur Wirklichkeit zu werden vermag"
Hortung prägt die gesamte Darstellung. Daß alleMenschcn, (S. 143).

°'J sie dies nun anerkennen oder nicht, aus der Hand des Für die kirchliche Praxis ist der Hinweis wichtig, daß

Schöpfers kommen und seinem Gericht entgegensehen, der Gegensatz Glaube-Unglaube keineswegs mit der Ent-

der eschatologische Gerichtshorizont der Himmelreichs- gegenstellung von Herz und Vernunft gleichzusetzen ist.

Blöiohnisse Jesu wie des Credos der Christenheit, dies „Nur die oberflächlichste Betrachtungsweise könnte ver-

'i iiinliegende wird hartnäckig ausgeblendet. Hierin hält muten, daß das Denken der eigentliche Feind des Glau-
die Verfasserin an Schleiermacher; Gottes heiliges bens sei, so daß der Unglaube besiegt wäre, wenn es geifern
um unsere Gerechtigkeit, dieses Zentrum reforma- länge, den Glauben gegen das Denken zu verteidigen. Es

orischer Theologie, vor allem Calvins, aber selbst noch ist keineswegs so, daß das Herz die Heimat des Glaubens,

■^gricolas, wird nicht mehr verstanden, darum kann man der Intellekt - oder gar der Logos der Vernunft - dagegen

»•cht mehr Buße und Glaube als Zuflucht vor Gott zu das Vaterland des Unglaubens wäre. Die leidenschafthch-

Ott vollziehen, Diese grundlegende Verkürzung verbün- ste Einsprache gegen Gott kommt nicht aus dem Intellekt,