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Ausgabe:

1977

Spalte:

607-610

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hausammann, Susi

Titel/Untertitel:

Buße als Umkehr und Erneuerung von Mensch und Gesellschaft 1977

Rezensent:

Peters, Albrecht

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607

Theologische l.ileratur/.eil iiii« I01>. Jahrgang l!»77 Nr. 8

(508

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Hausammann, Susi: Buße als Umkehr und Erneuerung von Mensen
und Gesellschaft. Eine theologiegeschiehtlicho Studie zu einer
Theologie der Buße. Zürich: Theologischer Verlag [1974]. 370 S.
8° = Studien zur Dograengeschichte und systematischen Theologie
, hrsg. v. E.Jüngel, A.Rieh, O.W.Locher, J.Staedtke, 88.
Kart. sl'r. 44.-.

Diese in Krlangcn als Habilitationsschrift geplante, wegen
der Berufung der Verfasserin an die Kirchliche Hochschule
in Wuppertal jedoch nicht vorgelegte, Ernst Bizer
und Hans Conzelmann gewidmete Studie zur Theologie
der Buße ist weithin noch konzipiert aus den Impulsen der
studentischen Unruhen mit ihren Sehnsüchten und Hoffnungen
, aber auch mit deren Verkürzungen und Einseitigkeiten
heraus.

Eine hermeneutische Vorbesinnung (S. 13-32) geht in
stichwortartigen historischen Längsschnitten den drei
„Phänomenkomplexen" nach, welche sich „zum theologischen
topos ,Buße' in seiner heutigen Gestalt zusammengefunden
" haben: Der Metanoia in ihrer Verfestigung zum
kirchlichen Bußinstitut der Poenitentia sowie in ihrer reformatorischen
Erneuerung und neuzeitlichen Ausweitung
auf die Gesellschaft, der Umkehr in ihrer Ausprägung zur
Conversio im Mönchtum, ihrer Vertiefung durch Calvin,
welcher die „subita conversio" zur Chiffre für sein Über-
wältigtwerden vom Evangelium erhob, in ihrer pietistischen
Erneuerung wie modernen Rezeption, schließlich
der Wiedergeburt oder Lebenserneuerung, welche als Re-
novatio und Regeneratio aber auch als Reformatio weit in
Kirche, Kultur und Gesellschaft hineingestrahlt hat. Aus
diesem ersten Durchblick gewinnt die Verfasserin fünf
Kriterien christlichen Redens von der Buße, welche im
Verlaufe der Studie erhärtet, fundiert, modifiziert und
korrigiert werden sollen: 1. Christliche Buße ist primär
und grundlegend Hinwendung zu Gott, sekundär und mit-
folgend Abkehr von der Sünde. Sie darf deshalb weder
„institutionell verplant" noch ethisch verflacht werden.

2. „Christliche Buße hat einen genuinen Bezug zur Chri-
stologie und Soteriologie"; dies gelte es neu zu entdecken.

3. Buße hat ferner eine Beziehung zur Eschatologie; die
Umkehr des einzelnen Menschen sei unter dem Ruf zum
Gottesreich auszurichten hin auf die Zusage einer „umfassenden
Erneuerung der gefallenen Schöpfung". 4. Buße
zielt auf den Menschen in seiner Ganzheit. 5. Buße gilt
deshalb nicht lediglich dem je einzelnen, sie ist keine Privatangelegenheit
, sondern muß „in jedem Fall eine Veränderung
der mitmenschlichen Beziehungen, oft auch der
gesellschaftlichen Verhältnisse einschließen" (S. 29f.).

Der umfangreiche Hauptteil entfaltet „Paradigmen des
christlichen Bußverständnisses aus der Geschichte der
abendländischen Kirche" (S. 33-326). Er gliedert sich in
drei Abschnitte, deren erster die Entwicklung der abendländischen
Christenheit bis zur Reformation skizziert (S. 33
bis 94). Neben dem kirchlichen Bußinstitut in seinen altkirchlichen
wie mittelalterlichen Ausprägungen werden
die hoch- und spätmittelalterlichen Büß- und Geißlerbewegungen
(S. 66ff.) geschildert, deren Bedeutung einmal
sorgfältiger nachgegangen werden sollte. Die Zusammenfassung
erneuert die protestantischen Vorurteile in
ihrer gesellschaftspolitischen Variation: Die Buße sei zum
„Instrument kirchlicher Herrschaft in geistlicher Gerichtsbarkeit
und Seelenführung" verkehrt worden; die institutionalisierte
Gefangenschaft unter einem unerfüllbaren
Gesetz lasse kaum Raum für ein freiverantwortliches, si-
tuations- wie sachgerechtes Handeln; der geschenkhafte
Gnadencharakter der Umkehr werde unter dem Gerichtsgedanken
verfälscht. Die Frage, was man tun müsse, um
durch seine Buße Gottes Gnade zu erwirken, treibe die
Menschen nur tiefer in ihre Selbstbezogenheit hinein; das
„Wohl der Mitmenschen, der menschlichen Gesellschaft
oder gar der Welt" komme als Ziel des neuen Lebens kaum

in den Blick. So sei jene „katholische Buße" nicht ein
Neuanfang in christlicher Freiheit als Annahme der Versöhnung
mit Gott und als Reaktion auf diese." Sie sei
„vielmehr eine Teilabzahlung einer belastenden Schuld
ivua Zweck, dadurch der Versöhnung mit Gott würdig
und teilhaftig zu werden" (S. 91-94).

Ein zweiter Abschnitt schildert die reformatorische
Lehre von der Buße (S. 94-241), zunächst Luthers Sicht
von 1516 bis 1522 in einer recht sorgfältigen Dokumentation
; eine abschließende These sucht Licht und Schatten
zu verteilen: Luther habe die Buße aus der Gesetzlichkeit
römischer Beichtpraxis herausgelöst, in ihr wieder den von
Gott selber gewirkten Neuanfang gesehen, welcher das gesamte
Leben prägen wolle; hierzu habe er die Absolution
ins Zentrum gerückt und das neue Leben als Geschenk der
Versöhnung mit Gott verstanden; jedoch sei die grundsätzliche
Freiheit vom eigenen Selbst wie die radikale Zukehr
zur Welt durch das Schauen auf die Heilsgewißheit
wieder gleichsam egozentrisch rückgebogen worden (S.
126f.). Leider wird die gemeindebauende Funktion des
Katechismusverhörs mit der freiwilligen Beichte alsÜbung
an Gesetz und Evangelium nicht entfaltet und damit die
Einfügung des einzelnen in sein gesellschaftliches Koordinatensystem
sowie seine Verantwortung für die außermenschliche
Kreatur vor dem Richterstuhl des Kreators
nicht erkannt. Hier wären - übrigens mehr oder weniger
bei allen Reformatoren wie weithin auch schon in der Praxis
des Mittelalters - gerade die gesellschaftspolitischen
Implikationen wie die ekklesiale Verankerung der Beichtinstitution
zu erheben gewesen. Doch die Identifizierung
von Institution und Gesetzlichkeit hat den Blick für dieses
gesamte Feld verstellt; hätte hier bei aller konkreten Problematik
die Kirche nicht auch als „Institution der Freiheit
" sichtbar gemacht werden können? Melanchthons
Verständnis der Buße (S. 135-168) wird einseitig unter
den Aspekt des Gesetzes gerückt, bei ihm leite das Evangelium
an zur Erfüllung des Gesetzes, so führe die Buße
„nicht zu einem Neuanfang in christlicher Freiheit, sondern
zur Erneuerung eines festnormierten, verlorenen Gehorsamsverhältnisses
"; sie wage sich nicht hinein in Gottes
offene Zukunft, sondern orientiere sich an der Vergangenheit
(S.168). Als leuchtendes Beispiel rechter Buße
aufgrund des Evangeliums wird dagegen Johann Agricola
herausgestrichen (S. 168-225), dessen diesbezüglicher Streit
mit Melanchthon, daß die Buße nicht „a timore poenae",
sondern „ab amore iustitiae" anheben solle, sorgfältig dokumentiert
wird; hierbei identifiziert Agricola das Gesetz
einseitig mit einem alttestamentlich verstandenen Dekalog
, während er in Anlehnung an Luthers frühe Passionssermone
den überführenden Brauch des Gottesgerichtes
von den in der Christusnachfolge zentrierten Weisungen
Jesu her entfaltet. Die für das Opus zentralen Ausführungen
zum Streit zwischen Agricola, Melanchthon und Luther
bedürften einer sorgfältigeren Kommentierung, weiterführende
Beobachtungen vermengen sich mit unguten
Verkürzungen; dies liegt vor allem daran, daß im Unterschied
zu allen Reformatoren, auch zu Agricola, die endzeitliche
Gerichtsdimension der biblischen Botschaft wie
des kirchlichen Credos abgeblendet wird, die christozentri-
sche Vertiefung des Dekalogs nicht bedacht ist und die Zuordnung
von Total- und Partialaspekt im Simul iustus ac
peccator nicht präzise erhoben ist. Auch hat die Verfasserin
die Funktion eines auf das Evangelium hin geöffneten
„usus puerilis legis" in der Katechismusunterweisung wie
in den Katechismusverhören nicht erkannt sowie die
schüchternen Versuche, den sog. kleinen Bann auf dem
Hintergrund der in Matthäus 18 wie in den Korinther-
briefen sichtbar werdenden Praxis zu erneuern und etwa
Wucherer zu exkommunizieren, übersehen. Würde man
dieser Praxis nachgehen, so käme die ekklesiale wie gesellschaftspolitische
Dimension von Buße und Beichte in den
Blick; es ließen sich Anstöße zu einer höchst revolutionären
Praxis gewinnen, doch das würde freilich die Kirche