Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1977

Spalte:

583

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dibelius, Martin

Titel/Untertitel:

Geschichte der urchristlichen Literatur 1977

Rezensent:

Schmithals, Walter

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

583

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 8

584

der mit „lieben" verbundenen theologisch wesentlichen
Aussagen bei Joh zu erfassen vermocht und ist der Komplexität
der joh. Stellung zur „Welt" einfach nicht gerecht
geworden (zur Sprache vgl. jetzt die religionsgeschichtlich
fundierte Auseinandersetzung mit L. Schottroff
usw. bei K.-W.Tröger: Ja oder Nein zur Welt. War
der Evangelist Johannes Gnostiker?, in: Theol. Versuche
VII, Berlin 1976). Wenn man sich der methodisch fragwürdigen
Selbstbeschränkung der Arbeit bewußt ist, wird
es dennoch gut sein, sich der oft natürlich auch förderlichen
Exegese der einschlägigen Texte ernsthaft zu stellen
, zumal sie für einen bestimmten Trend gegenwärtiger
Johannes-Forschung charakteristisch ist.

Naumburg (Saale) Nikolaus Walter

Dibelius, Martin: Geschichte der urchristlichen Literatur. Neudruck
der Erstausgabe von 1926 unter Berücksichtigung der Änderungen
der englischen Übersetzung von 1936, hrsg. v. F. Hahn.
München: Kaiser 1975. 188 S. 8° = Theologische Bücherei. Neudrucke
und Berichte aus dem 20. Jahrhundert, hrsg. v. G. Sauter.
Neues Testament, 58. DM 25,-.

Rudolf Bultmann hat in seiner Besprechung der 1. Auflage
des vorliegenden Buches (ThLZ 52, 1927, Sp. 80-83)
das Bedenken geäußert, der Begriff Literaturgeschichte
für die frühchristliche Überlieferung könne zu hoch gegriffen
sein. Diese Anfrage ist berechtigt, aber man kann sie
zurückstellen, wenn klar ist, was der gewählte Begriff besagen
soll.

Dibelius versteht darunter die Behandlung des gesamten
Schrifttums der frühchristlichen Zeit, und zwar unter
Einschluß auch der mündlichen Überlieferungsstoffe, unter
literarkritischem Gesichtspunkt.

Ferdinand Hahn, der dem vorliegenden Neudruck ein
Vorwort mitgibt, begründet die Neuausgabe des 50 Jahre
alten Buches damit, daß das von Dibelius skizzierte Konzept
bis heute noch nicht wirklich ausgeführt sei; denn die
Arbeit von Dibelius, ursprünglich in zwei Göschen-Bändchen
erschienen, ist ja für einen größeren Leserkreis bestimmt
und wurde deshalb nicht streng wissenschaftlich
durchgeführt. Sollte aber die angekündigte .Geschichte
der urchristlichen Literatur' von Vielhauer das Programm
von Dibelius endlich ausführen, sei - so meint Hahn - der
Neudruck erst recht begründet. Denn nun ließe sich die
Grundlage, auf der Vielhauer als Schüler von Dibelius aufbaut
, zum forschungsgeschichtlichen Vergleich heranziehen
.

Vielhaucrs Literaturgeschichte, freilich stärker zur Gattung
.Einleitung' hin tendierend, ist inzwischen erschienen
, und Hahns Erwartung bestätigt sich insofern.

Damit hat das Buch von Dibelius freilich eine neue
Funktion bekommen. Es dient nicht mehr vor allem einem
weiten Leserkreis zur Information über die frühchristliche
Literatur, sondern, mit einer wissenschaftlichen Einleitung
versehen und um eine Bibliographie der Schriften
von Martin Dibelius sowie ein Verzeichnis neuerer Literatur
vermehrt, dem Forscher zum Anreiz, dem Problem der
urchristlichen Literatur nachzudenken.

Das Ergebnis solchen Nachdenkens möchte freilich zu
anderen Einsichten führen als zu jenen, die einst Dibelius
bei seiner Konzeption bestimmten. Denn es ist nicht ausgemacht
, daß eine neue Blüte der Formgeschichte bevorsteht
. Der kommende Weg der Forschung könnte auch zu
einer durch die Einsichten der formgeschichtlichen Schule
bereicherten und befruchteten neuen Phase der Quellenkritik
führen.

Berlin Walter Sclimithals

Lohfink, Gerhard: Die Sammlung Israels. Eine Untersuchung zur
lukanischen Kkklesiologie. München: Kösel-Verlag 1975. 11"> S.
gr. 8° = Studien zum Alten und Neuen Testament, hrsg. v.
W. Richter und R. Schnackenburg, 39. Kart. DM 28,-.

In der Lukasforsehung ist das letzte Wort noch nicht
gesprochen. Neue Ansätze sind in der neuesten Zeit aufgetaucht
, darunter die vorliegende Studie zur lukanischen
Ekklesiologie. Dadurch wird die bleibende methodische
Bedeutung einiger fast klassisch gewordener Studien (von
Conzelmann, Haenchen etc.) bestätigt, während die von
diesen gebotene Auffassung von Lukas als Historiker und
Theologe langsam überholt oder mindestens revisionsbedürftig
zu werden scheint.

Die These Lohfinks lautet: Für Lukas hat Jesus keine
Kirche, d. h. eine neue Glaubensgemeinschaft neben oder
in Israel, gegründet. Die Entstehung der Kirche, des wahren
Israels, ist ein vor und mit und nach Jesus von Gott
durchgeführter, geschichtlicher Prozeß, an dem Jesus immerhin
entscheidenden Anteil hat. Die Entstehung der
Kirche heißt die Sammlung Israels, und die bezügliche
Darstellung des Verfassers der lukanischen Schriften ist
ganz von der Israelthematik bestimmt.

In Kap.l stellt Lohfink die ganz und gar vom Israelsbegriff
bestimmte Theologie des vorlukanischen Erzählkomplexes
(Lk 1,5-2,40 dar: In der Gemeinde, die Jesus
als Messias bekennt , verwirklicht sich das verheißene, endzeitliche
Israel. Die Kirche befindet sich in ungebrochener
Kontinuität mit Israel und braucht gar nicht gegründet zu
werden „weil sie Israel geblieben ist". Diese Ekklesiologie
hat sich der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes zu
eigen gemacht. (Dieser tritt theologisch völlig als ein Doppelgänger
des m. E. mit unzureichenden Gründen vermuteten
Redaktors der Vorgeschichte auf.) Erstens hat
Lukas in seinem Evangelium herausgearbeitet, wie Jesus
in seinem Wirken ganz Israel erreichte (Kap. 2). Das Volk,
der laos, des Evangeliums ist Israel oder die Repräsentation
ganz Israels. Zweitens (Kap. 3) tritt die Verknüpfung
mit Lk 1-2 so hervor, daß der Vf. der Apg erzählt, wie
„aus dem von Jesus angesprochenen Israel das neue Gottesvolk
wurde". Nach Pfingsten wird das wahre Israel gesammelt
, das allerdings ein um die lleidenvölker erweitertes
Israel ist, denn „das wahre Israel ist erst dann erreicht.
wenn die Heiden in die Gemeinschaft des Gottesvolkes
eingebracht worden sind". Durch diesen Prozeß aber wird
auch der ungläubige Teil des Volkes zum Judentum und
existiert als „Israel" nicht mehr. Die Rolle des Jüngerkreises
vor Pfingsten (Kap. 4) besteht darin, nicht an sich
schon Kirche, sondern eine Präformation der Kirche zu
sein. Urheber der Kirche ist Gott selbst (das Thema in
Kap. 5, was Lohfink schon aus der theozentrisch orientierten
Christologie und Soteriologie der Apg herleitet).

Das Buch ist anregend und gehört zu den wichtigsten
Erscheinungen der heutigen Lukasforschung. Eine zwanglose
Exegese erhellt die lukanisehe Ekklesiologie mit überraschenden
Gesichtspunkten. Vor allem wird jetzt die
Vorgeschichte Luk 1-2 ernst genommen und für das Lukasverständnis
fruchtbar gemacht. Die kritischen Fragen
aber müssen auch gestellt werden und nicht nur zu Details.
Vf. scheint die Terminologie ungebührlich herunterzuspielen
, indem er sich gezwungen sieht, die lukanisehe Ekklesiologie
mit Begriffen wie „altem" und „neuem" und
„wahrem" Gottesvolk wiederzugeben, Begriffen also, die
für die neutestamentlichen Verfasser unbrauchbar sind
und deshalb nicht vorkommen. Wo ist in der Apg ,,ho
laos", das Volk aus Juden und Heiden? Ob „laos" nicht
eine Volksmenge heißen kann'? Die großen Schwierigkeiten
, die das gesamte Urchristentum mit der Heidenmission
und dem Zusammenleben von Juden und Heiden empfand
(zu Lukas z. B. Apg 10-11,15 und 21), werden nicht diskutiert
. Was heißt für einen Judenchristen „ein um die lleidenvölker
erweitertes Gottesvolk"? Die geschichtliche
Lage des Lukas innerhalb des Urchristentums wird nicht
erwogen. Und wenn die Kirche eigentlich eine Erweite-