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Ausgabe:

1977

Spalte:

536-540

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie heute 1977

Rezensent:

Henkys, Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 7

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des NT zumutet. Hier zeigt sich die hernieneutisehe 1'ragcxMlim;!
in der Sicht Luthers, der nicht einfach eine zu verstehende Cr-
kunde proklamieren will, sondern „um das immer neu zu vollziehende
Verständnis und damit die Verwirklichung der Autorität
der Autorität" (110) ringt. Maßstab ist das „Evangelium" als
Christus-Predigt, und dieser Maßstab hängt von der „Schrift in
Punktion" (87) ab. Es gibt keinen Kanon außerhalb des Kanons.
Das ist die wichtigste Konsequenz, die Luther aus dem Schlüsselwort
Gal l,8f. zieht, mit der er eine „Neubegründung des Kanons"
(W. Maurer) im Anschluß an den paulinischen Begriff des Apostolischen
gewagt hat. Die Apostolizität ist das entscheidende Kriterium
der Kontinuität. L. vermag deutlich zu machen, daß sich bei
Luther die „theologische Notwendigkeit" der Gleichsetzung von
Rechtfertigungslehre und Schriftverständnis einerseits und von
Kontinuität und Apostolizität andererseits am „polemischen Zentralnerv
" des „sola" (gewonnen an Gal 1,8) entscheidet.

Die Hauptthese des Buches - die Reformation als Krise des neu-
testamentlichen Kanons - rückt in ihren eigentlichen Brennpunkt
anläßlich der Bearbeitung der Argumente, die gegen die Position
Luthers geltend gemacht werden. Die Linie führt in einer Steigerung
der „Kanon/Kirche-Argumentation" (160ff.) bis zur Festlegung
der antireformatorischen Position im Tridentinum. L. unterscheidet
drei Phasen, deren erste und zweite durch das Jahr
1522 getrennt sind, das Jahr der Ausgabe des Septembertestami>n1 s
Luthers. Bis 1522 geht es in erster Linie um Aufbau und Befestigung
des entscheidenden Kontroverspunktes auf Seiten der Gegner
Luthers, um das Schriftauslegungsprimat des Papstes. Nach
dem Erseheinen des Septembertestaments beziehen sich die Auseinandersetzungen
auf die geschlossene Gestalt von Luthers Kritik
in seinen Vorreden: Verkürzung des vollen NT (H. Emser),
Postulat des Gleichgewichts von Schriftautorität und Kirchenautorität
(J. Cochläus), was schließlich zur gewichtigsten Gegenthese
bis zum Tridentinum wird. Dort, in Trient, löst man die
dogmatische Aufgabe durch historische Feststellungen (183). Die
Haltung Bellarmins ändert auch nichts, der aufgrund der (für ihn)
notwendigen Zusammengehörigkeit von formaler Schriftautorität
und formaler Lehrautorität der Kirche nun doch eine Dreiteilung
des neutestamentlichen Schriftkanons in Homologumena, Anti-
legomena und Apokryphen vornehmen kann. Alles mündet „in die
Lehre von der alleinigen Auslegungsautorität der lehrenden Kirche
", und der „Einwand gegen den Glauben der Häretiker", der
„notwendigerweise mutmaßlich und ungewiß sei" (187), folgt in
logischer Konsequenz. Von Seiten der reformatorischen Theologie
entwickelt sich eine Schriftlehre zunächst implizit (bes. innerhalb
der Artikel IV bis VII der CA), dann aber explizit als Antwort auf
das tridentinische Kanondekret, das einen doppelten Angriff insofern
provozierte, als es eine Reaktion auf die historisch-kritischen
Prämissen hervorrief und die Formalisierung des reformatorisehen
„sola scriptura" beschleunigte. Damit wurde die lutherische Position
in eine Problemstellung gebracht, die schließlich - von ganz
anderer Seite herkommend - in der Einsicht des Tridentinum
mündet, daß es die Aufgabe sei, „das dogmatische Fundament der
Kirche richt iger zu umgrenzen" (199). So wird, entgegen der Ansicht
Luthers, ein Kanon außerhalb des Kanons statuiert, und damit
wird die Differenzierung der Fragen nach Schriftautorität und
Schriftverständnis notwendig, was insbesondere die Inspirationslehre
und die Lehre von der Schriftlichkeit des Kanons als theologisches
Wesensmerkmal an dogmatischen Konstruktionen zeitigte.
Als Tendenz ist in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie eine
Entwicklung zu finden, die „in auffälligem Maße Rekal holisierung
bedeutet" (so F. Lau, in: RGG3 Bd. IV Sp. 1722). Die „anti-
gegenreformatorische Endposition" (206) zeigt die Kanonproblematik
in einer Krise, da der ehemalige Verteidiger der Schriftautorität
nun die „Insuffizienz derselben Schrift" (213) behauptet.
Das bedeutet für beide Positionen das Auseinanderfallen von Autorität
und Botschaft, d. h. „die Konfessionalisierung der Schrift-
auslegung" (213).

Die konfessionelle Vieldeutigkeit der Kirche heute - Teil III
„Kanon und Konfession" (214-242) - hat ihre Wurzeln im neu-
testamentlichen Kanon. Der diesem Satz zugrunde liegenden bekannten
These E. Käsemanns geht L. im Problemhorizont einer
„ökumenischen Theologie" nach. D. h. es geht weder um die „Vorstellung
von einem quantitativen Minimum" als Fundament der
Einheit der Kirche, noch um „die Vorstellung von einer theologischen
Quantität" (240). Vielmehr ist es die „qualitative" „Ganzheit
. . . der doctrina evangelii", die „, das Ganze' nur in der Bewährung
in der konkreten, geschichtlichen Wirklichkeit" (241) hat.
Hier ist der sachgemäße Ort der Formel von der „Kirche als Einheit
in Vielfalt". Der Teil IV „Kanon und Kirche" (243 268)
kommt auf das Verhältnis von Schrift und Tradition zu sprechen.
Der neutestamentliche Kanon hat die Funktion „des bleibend
Apostolischen" (260), als dem „entscheidenden criterium canorii-
citatis" (259). Einen rein historischen ApostelbegrifV gibt es nicht;
es geht um einen komplexen, mit dem Vorgang der Kanonbildung
selbst eng verbundenen Reflexionsbegriff, „der das Grundanliegen
der Vorgegebenheit der Offenbarung zum Ausdruck bringt" (260).
Die Frage nach der Kanongrenzo ist nur legitim, wenn sie „den
Blick für die wahrhaft theologische Problematik der Kanongrenze"
öffnet (268). Diese Problematik liegt im Verhältnis von Kanon und
Kirche. Beide gehören zusammen. Aber wie? Die Kirche ist zur
„depositaire de son Evangile" (G. Dejaifve) eingesetzt.

Ein kurzer Teil V „Evangelium und Kanon" (269 272), in dem
Sinn und Notwendigkeit der Formel „Kanon im Kanon" aufgezeigt
werden, besehließt die Arbeit.

Dieses Buch versucht m. E. erfolgreich an den Stellen theologie
geschichtlich und dogmatisch weiterzuarbeiten, die durch die Beitrage
in dem Band „Das Neue Testament als Kanon, hrsg. von
E. Käsemann, Göttingen 1970" und vor allein durch „Kritische
Analyse" und „Zusammenfassung" des Herausgebers markiert
werden. War dort schon die Rechtfertigungslehre als sachkritisches
Kriterium eines „Kanon im Kanon" erkannt worden, so wird
bei L. deutlich, daß selbst eine Lösung unmöglich ist, „die Paulus
zum Kanon im Kanon machte" (272). Vielmehr ist, es „die ünab-
leitbarkeit und Unverfügbarkeit des Evangeliums als Kanon"
(ebd.), die ein „theologisches Programm" aufzeigt: Dieses ist
„folgerichtig durch die Konstante der traditionskritischen Grundstruktur
gekennzeichnet, die aus dem Verständnis der Kontinuität
der auetoritas eanonica als Kontinuität des Evangeliums erwächst''
(272). Hier wird eine Antwort auf das dogmatische Grundlagenproblem
des neutestamentlichen Kanons gegeben, die ernsthaft
aus der Konfrontation von historischem und systematisch-theologischem
Aspekt erwachsen ist. Die Freude darüber wird etwas getrübt
durch die Unzahl der Druckfehler. Das kann aber am sachlichen
Wert des Buches nichts mindern.

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Klostermann, Ferdinand, u. Rolf Zerlaß [Hrsg.]: Praktische Theologie
heute. Unter Mitarbeit v. L. Bertsch, N. Greinacher,
A.Müller, Y.Spiegel. München: Kaiser; Mainz: Matthias-
Grünewald-Verlag [1974]. 703 S. gr. 8°. DM 55,-.

Ein „Wiener Kongreß" Praktischer Theologen aus Österreich,
der Schweiz und der BRD beging Anfang 1974 das zweihundertjährige
Jubiläum der Pastoraltheologie als selbständiger katholischer
Universitätsdisziplin. Nicht immer treffen Säkularfeiern auf
günstige Verhältnisse. Oft muß das Jubiläum dazu herhalten, seinen
längst gleichgültig gewordenen Anlaß dem allgemeinen Bewußtsein
allererst nahezubringen. Aber im Falle des Gedenkens an
Franz Stephan Rautenstrauch und die durch seine Ideen bestimmte
Allsbildungsreform der K leriker unter der Kaiserin Maria Theresia
lagen die Dinge besser.

Die sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts haben
eine bemerkenswerte Zahl von Versuchen gebracht, die Grundlagen
der Praktischen Theologie neu zu vermessen und die Aufgaben
und Ziele der Disziplin neu zu erörtern. Dabei sind die Fach Vertreter
, den Herausforderungen der Gegenwart folgend, über die Konfessionssehranken
hinwog ziemlich eng zusammengerückt. Ein
äußeres Zeichen dafür ist die Relativierung der Fachbezeichnung
„Pastoraltheologio" und die Zuordnung der hier fälligen Aufgaben