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Ausgabe:

1977

Spalte:

528-529

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Watté, Pierre

Titel/Untertitel:

Structures philosophiques du péché originel 1977

Rezensent:

Bertinetti, Ilse

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 7

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Hall die zahlreichen Bibelkommentare besonders über Daniel, die
Johannes-Apokalypse und auch das Hohelied. I.chrabhandhingen,
polemische Werke, erbauliche Schriften und gedruckte Einzel-
predigten sowie Predigtsammlungen jener Jahrzehnte. Sein Ergebnis
sieht etwa so aus:

Die eschatologische Naherwartung war bereits im 16. Jh. in England
derart rege, daß man verschiedentlich das genaue Jahr des
Wiederkommen» Christi berechnete. Diese Berechnungen weisen
viele Varianten auf; sie erstrecken sich von 1582 bis 1700 und darüber
hinaus. Gemeinsam aber war sämtlichen Theologen, Predigern
und gelehrten Laien, die sich zu dieser Frage äußerten, dje
feste Gewißheit, daß die 2. Parusie Christi noch in ihrer Generation
erfolgen werde, wenn auch die besonneneren unter ihnen auf
die Fixierung des Datums bewußt verzichteten. Ball führt die
Festigkeit dieses Glaubens auf das unbedingte Vertrauen zur Bibel
auch in ihren apokalyptischen Zukunftsprophezeiungen und auf
das Bewußtsein zurück, Gottes Verheißungen seien unwandelbar,
zumal sich viele von ihnen bereits erfüllt hätten. Wenn der Rezensent
auch geneigt ist, die nichttheologischen Ursachen dieses Anschwellens
der Hoffnung bedeutend höher zu werten als der Autor,
so kann doch kein Zweifel an der großen Bedeutung der von Ball
genannten theologischen Motivation bestehen. Man war auch fest
überzeugt, daß Christus nicht etwa nur geistlich, sondern leibhaftig
und in Glorie und Macht wiedererscheinen werde. Aus soterio-
logischen und moralischen Gründen betrachtete man den 2. Advent
Christi als die unumgängliche Folge des 1. Advents.

Daniel und die Apokalypse wurden als einheitliche Weissagung
Gottes verstanden, so daß die Johannes-Offenbarung nur als Explikation
Daniels galt. Wenn auch deren Auslegung im einzelnen
stark differierte, so drangen doch sämtliche Interpreten auf ein gesell
ichtliches Verständnis ihrer Weissagungen, so daß diese den gesamten
Verlauf der Geschichte vom Erscheinen der Seher bis zum
Ende der Welt betrafen und die Endereignisse nicht als vom bisherigen
Geschichts verlauf isolierte Geschehnisse, sondern als deren
Vollendung erschienen. Die Folge war bei den meisten englischen
Auslegern die Verwerfung der von jesuitischen Exegeten vertretenen
präteristischen (die Offenb. bezieht sich nur auf die ersten beiden
nachchristlichen Jahrhunderte) und futuristischen (sie bezieht
sich nur auf die Endereignisse) Interpretation. Man erkannte
schnell, daß die katholische Auslegung eine Deutung des Antichrist
auf das Papsttum unmöglich machen wollte. Demgegenüber
sahen die englischen Ausleger in ihrer großen Mehrheit gerade im
Papsttum und in den Türken Verkörperungen des Antichrist und
betrachteten deren Niederwerfung unmittelbar vor der Wiederkunft
Christi als Voraussetzungen dieser. Als Zeichen des herannahenden
Endes deutete man die sittlichen Verfallserscheinungen,
Kriege und Naturkatastrophen der eigenen Gegenwart. Zeugt dies
von einer pessimistischen Beurteilung der Zeitsituation, so ist doch
andererseits mit Ball zu betonen, daß die eschatologische Erwartung
nicht von Furcht, sondern von Freude und Hoffnung bestimmt
war. Der in die nur von Gott realisierbare Zukunft gerichtete
Glaube führte nicht zur Passivität, sondern ließ die Gegenwart
als Feld der Bewährung und die Hoffnung als Aufruf zur Heiligung
zwecks Vorbereitung auf den wiederkommenden Herrn erscheinen
. Die meisten Schwierigkeiten bereitete die Auslegung von
Offenb. 20, die Frage also nach dem Charakter des tausendjährigen
Reiches auf Erden. Der von einer Minderheit vertretene amillenia-
lism trug ein modifiziert augustinisches Verständnis des Reiches
der Vollkommenheit vor; die dem pre- und postmillenialism verpflichteten
Denker glaubten entweder an eine bloß geistliche Offenbarung
Christi zur Heraufführung dieses Reiches, an eine geistliehe
Regierung Christi nach leibhaftem Erscheinen auf der Wolke oder
aber an sein persönliches Regiment mit seinen Auserwahlten auf
Erden.

Die Idee vom Herannahen der 5. Monarchie nach dem Vergehen
aller 4 von Daniel vorausgesagten Reiche war damals in England
weit verbreitet; die eigentlichen Quintomonarchisten machten dagegen
nur eine kleine Gruppe aus. Von ihren gläubigen Zeitgenossen
trennte sie lediglich die Bereitschaft, das Reich der Gerechtigkeit
selbst mit dem Schwert zu verwirklichen. Darin sahen sie die
speziell ihrer Generation von Gott gestellte Aufgabe, wobei sie von
der Annahme ausgingen, Gott habe jeder einzelnen Generation besondere
Weisungen gegeben, die diese nur um den Preis des Glaubensgehorsams
übersehen könnten. Die Sprache der frühen Quaker
unter George Fox näherte sich oft der der radikalen Chiliasten
an, und sie bedienten sich auch der provokatorischen Rhetorik der
Quintomonarchisten, tatsächlich aber waren sie von diesen streng
geschieden. Sie verstanden das herannahende Ende nicht apokalyptisch
, sondern im Sinne der realized eschatology. Ihnen ging es
um das geistliche Königreich, das Christus schon in der Gegen» ;i rl
errichtet, indem sein Geist in den Herzen vieler gläubiger Individuen
Wohnung nimmt. Deshalb waren sie überzeugt, daß Christi
Reich, da es nicht von dieser Welt sei, nur mit geistlichen Wallen
geschaffen werden könne. Christi Offenbarung war für sie keine
finale Offenbarung vom Himmel, sondern eine gegenwärtige persönliche
Offenbarung im Leben der Menschen. Als innerliches
Reich ist Christi Herrschaft unsichtbar, sie realisiert sich indes nicht
auf Grund einer bloßen Gesinnungsethik, sondern durch konkrete
Erfüllung des Willens Gottes in radikaler Absage an die Sünde.
Die Folge war bei den frühen Quäkern ein Perfektionismus mit
klarer Frontstellung gegen ein Auseinanderreißen von Rechtfertigung
und Heiligung. Indem Ball in vorbildlicher Klarheit diese
Typen der Eschatologie darstellt, umreißt er auch das Spannungsfeld
gegenwärtiger christlicher Hoffnung.

Rostock Ort Wendelbon]

PHILOSOPHIE

Watte, Pierre: Struktures philosophi ques du peche originel. St. AugU-
stin, S.Thomas, Kant. Prcface de P.Ricoeur. Gembloux: DuQJl-
lot [1974]. 239 S. gr. 8° = Recherches et Syntheses, Seotion de
Dogme, V. bfr. 500.-.

Die vorliegende Arbeit stellt einen interessanten Versuch dar.
unter Zuhilfenahme des Strukturbegriffes die einschlägigen Texte
bei Augustin, Thomas von Aquin und Kant im Hinblick auf ihr
Verständnis der Erbsündenlehre zu analysieren und zu vergleichen.
Auf die mehrfachen Schwierigkeiten eines derartigen (philosophischen
und geschichtswissenschaftlichen) Unterfangens verweist in
seinem Vorwort P. Ricoeur (Preface. - P. 6-8). Der Verfasser
selbst begründet sein Vorhaben und seinen epistemologischen Einsatz
beim Strukturalismus ausführlich in einer Einleitung (Intro-
duction. P. 13-25).

Das Erbsündendogma sei gegenwärtig Gegenstand theologischer
Debatten und hinsichtlich seiner Interpretation auch im römischen
Katholizismus umstritten („. . . on ne sait pas exacte-
ment, dans quel sens il est aujours'hui recu par le magistere." -
P. 13). Watte will jedoch weniger in die theologische Diskussion
eingreifen als vielmehr anhand von drei repräsentativen Lehrmeinungen
(unter denen freilich Kant im eigentlichen Sinn keine
theologisch-dogmatische Lehrmeinung vertritt, sondern die vorgegebene
kirchliche Lehre deutet) die systemverbindenden Relationen
aufweisen. Die theologische und die philosophische Fragestellung
treffen für Watte da zusammen, wo es um das eng mit
dem Fragen nach dem Ursprung des Bösen verknüpfte Problem
der Freiheit und die ethischen Konsequenzen geht.

Watte versteht es zunächst vorzüglich, das Wesentliche des augu-
stinischen, thomistischen und kantischen Verständnisses des Erh-
sündendogmas herauszuarbeiten (Le depart augustinien. - P. 27
bis 72; La negativite thomiste. -P. 73-127; Le labyrinthe kantien.
- P. 128-215). Die jeweilige theologische Eigenart wird dabei ge-
gen die verschiedenen philosophischen Einflüsse abgehoben. Dazu
werden die dogmen- und philosophiegeschichtlichen Strukturierungen
sowie die individuellen Auseinandersetzungen und Entwicklungsstufen
aufgewiesen. (So geht Watte beispielsweise auf
die Konflikte Kants mit der Zensurbehörde im Zusammenhang der
Entstehungsgeschichte seiner Schrift „Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft" bzw. des darin enthaltenen Traktats
über das „radikale Böse" ein.) Der Vf. befindet sich dabei
durchgängig im Gespräch mit dem modernen französischen Strukturalismus
, den er methodologisch aufnimmt, dessen extreme Be-