Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1977

Spalte:

514-516

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Irénée de Lyon: Contre les Hérèsies 1977

Rezensent:

Karpp, Heinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

513

Theologische Literaturzoitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 7

514

mit erklärt, daß nach der Zerstörung Jerusalems für die Christen
insofern eine einschneidende Situationsveränderung eintrat, als das
Judentum in einem völkisch greifbaren und für die vorevangelischen
Traditionen als lebensbestimmende Gegenwartsgröße bedeutsamen
Sinne zu existieren aufhörte. Dadurch wurden die Traditionen
, „die als lebendige Auseinandersetzung innerhalb des religiös
verstandenen Judentums und in Zuordnung darauf entstanden
waren, . . . freigesetzt. Sie brauchen und können die bisherige
Funktion nicht mehr erfüllen ... So geschah es, daß diese Traditionen
Belbst in einem Prozeß der Vergeschichtlichung und Neudeutung
den verlorengegangenen Lebensraum neu bestimmten"
(S. 138). - Das hat mannigfache Umdeutungen der zuvor entstandenen
Einzeltraditionen zur Folge. Diese werden aber nicht als
individuelle Leistungen der Redaktoren verstanden, sondern auf
ein in der Gemeinde entstandenes verändertes Interesse an den
Einzelheiten der vergangenen Jesusgeschichte zurückgeführt
(S. 133). Die Leistung der Redaktoren beschränkt sich nunmehr
darauf, daß sie der „durch die neue soziale Lage bedingten und in
der Gemeinde geschehenen Umdeutung ihrer Traditionen Ausdruck
verliehen" (S. 138).

Es ist zweifellos ein großes Verdienst der vorliegenden Arbeit,
auf die Notwendigkeit eines formulierten ntl. Geschichtsbildes,
das sich seinerseits an den vorliegenden Schriften orientiert, hingewiesen
zu haben, da nur so die divergierenden Einzelergebnisse
historisch-kritischer Arbeit überhaupt vergleichbar werden und
eine Auseinandersetzung um den Stellenwert der jeweiligen Ergebnisse
und damit auch um ihre Richtigkeit ermöglicht wird. F.s
Buch ist darum für jeden, der selber exegetisch arbeitet, eine heilsame
und in jedem Fall anregende Lektüre, auch wenn manche
kritischen Fragen bleiben. So erscheint mir fraglich, ob man die
individuelle Leistung des Hedaktors tatsächlich so gering veranschlagen
darf, daß er nur einer in der Gemeinde und ihren Lebens-
prozessen schon vollzogenen Umdeutung Ausdruck verleiht (S. 138).
An anderer Stelle formuliert F. selber vorsichtiger und richtiger:
„Die .Möglichkeit eines ntl. Schriftstellers, selbst zu konzipieren,
ist zu begrenzen durch die - methodisch zunächst als selbständig zu
konzipierende [wie soll das geschehen?] - Tradition seiner Gemeinde
. Die Möglichkeiten für einen ntl. Schriftsteller sind zunächst
[im Original gesperrt] von der Variationsbreite der eigenen
Gemeindetradition vorgegeben" (S.60). Dabei bliebe immerhin die
Möglichkeit, daß der Hedaktor - wenn auch nur in einem zu Recht
begrenzten Kähmen - individuelle Akzente setzt. Damit zusammen
hängt die Krage, ob das nach F. in und aus der Gemeinde gebildete
Evangelium tatsächlich die Funktion übernimmt, in eigenständiger
Weise eine Lebensgemeinschaft zu begründen (S. 139). Dies ergibt
sich nicht notwendig aus F.s Überlegungen, so daß die Frage
nach der genauen Abzweckung der Schriften noch weiterer Klärung
bedarf. Im 5. Kapitel exemplifiziert F. seine grundsätzlichen
Überlegungen an Mk 1,1-11. Mit einer umfangreichen und sorgfältigen
begriffsgeschichtlichen Untersuchung der für den Sinn-
zusainmenliang tragenden Begriffe (S. 145-183) verwirklicht er in
vorbildlicher Weise die Forderung, die sich aus der Analyse der
vorevangelischen Traditionen und der Evangelienbildung ergab:
,,Es geht in jeder Exegese um die primäre Ableitung aus atl. Denken
, durch das jüdische Volk zur ntl. Zeit vermittelt, und die Veränderung
dieser Vorstellung durch den Prozeß, in dem sich die vorevangelischen
Gemeinden innerlieh vom Judentum (und dessen
Hellenismen!) löste |sic!| und als selbständige Größe in den hellenistisch
-heidnischen Kaum vorstieß [sie!)" (S. 143). Im übrigen aber
wirkt sieb liier besonders nachteilig aus, daß die neueren Arbeiten
zur Logienquelle nicht benutzt wurden; dabei zeigt sich, daß auch
F. seinen Ansatz überzieht. So wird postuliert, daß die Erklärung
der Merkwürdigkeiten des markinischen Prologs „nicht aus der
Arbeit eines Kedaktors an vorgegebener Tradition" gesucht werden
dürfe, vielmehr „die einzige legitime Krklärungsweise . . . eine
an der Form Evangelium und dem darin zum Ausdruck kommenden
Gemeindeleben orientierte traditionsgeschichtliche Deutung"
sei (S. 194). Das verleitet zu einer motivgeschichtlichen Ableitung
(S. 19011'.), welche die Erklärung des Mk-Prologs aus dem christlichen
Kult (S. I9liff.) vorbereitet. Wird dagegen berücksichtigt,
daß die Täuferüberlieferung aus der Logienquelle stammt, legt
sich eine ganz andere traditionsgeschichtliche Ableit ung viel näher:

Johannes der Täufer verkündigte die Nähe des Feuerrichters. In
der Logienquelle wurde diese Verkündigung christlich korrigiert
und auf Jesus als den kommenden Menschensohn-Weltenrichter
bezogen. Im Mk/Ev dagegen ist die Naherwartung preisgegeben;
das dürfte mit der veränderten Lage nach der Tempel Zerstörung
zusammenhängen. Jetzt wird darum die Täuferverkündigung ent-
apokalyptisiert und der Täufer zum Vorläufer des irdischen Jesus.
Dementsprechend wird auch die Uberlieferung vom Auftreten des
Täufers umgestaltet. Dies im einzelnen nachzuweisen, ist hier nicht
der Ort. Ks sollte nur angedeutet werden, daß die Nachweisbarkeit
von Q als einer rekonstruierbaren quasi-literarischen Größe ganz
im Sinne von F. Auswirkungen auf das ntl. Geschichtsbild und
damit auf das Bild von der Kntstehung der Kvangelien hat. (lerade
beim Mk-Prolog ist dann mit der Möglichkeit zu rechnen, daß angesichts
der völlig veränderten Situation, in der die Gemeinde sieh
nach der Tempelzerstörung befand, ein einzelner Theologe die alte
apokalyptische Uberlieferung auf das vergangene Jesusgeschehen
bezog und dieses damit neu deutete. Das wiederum würde verlangen
, daß genauer nach dem Geschichtsverständnis des Mk/Ev zu
fragen wäre.

Amelsbüren bei Münster Alfred Suhl

KIRCH ENGESCHICHTE: ALTE KIRCHE

Irence de Lyon: Contrc les Heresies. Livre III. Edition critique par
A. Rousseau et L. Doutreleau, S. J. I: Introduction,Notes justifi-
catives, Tables. II: Texte et Traduction. Paris: Les Editions du
Cerf 1974.470 u. 495 S. 8" = Sources Chr6tiennes N° 210 u. 211.
ffr. 154-u. 158,-.

Es hat lange gedauert, bis die „Entlarvung und Zerstörung der
zu Unrecht sogenannten Gnosis" des Irenaus einmal so herausgegeben
wurde, wie es modernen Editionsgrundsätzen entspricht.
Obwohl das Werk zu den wichtigsten altkirchlichen Quellen gehört
, ist in der Berliner Reihe der „Griechischen christlichen
Schriftsteller der ersten (drei) Jahrhunderte" eine solche Ausgabe
leider nicht erschienen. Erst F. Sagnard O. P. begann diese große
Lücke zu füllen. Das Werk des Irenaus bringt bekanntlich das,
was der Titel im engeren Sinne verspricht, in Buch I—II und fügt
dann im zweiten Hauptteil (Buch III—IV) der vorausgegangenen
Polemik eine positive Darstellung der kirchlichen Lehrüberlieferung
, die wesent lich in der heiligen Schrift besteht, an. Diesen zweiten
Teil wollte Sagnard aus guten Gründen zuerst herausbringen.
Buch III erschien 1952 (Sources Chr. 34) und wurde in ThLZ 1954
Nr. 7/8 angezeigt. Als nach Sagnards Tod andere Gelehrte unter
der Leitung von A. Rousseau die Fortsetzung der Arbeit übernahmen
, änderten Sie deren Grundsätze nicht unwesentlich. Dazu ver-
anlaßte sie vor allem die besondere Lage der Überlieferung in den
letzten beiden Büchern. In ihnen tritt zu der recht treuen lateinischen
Ubersetzung, die allein das Werk vollständig erhalten hat,
eine von ihr unabhängige armenische Ubersetzung des griechischen
Originals. In allen Büchern wird diese direkte, wenn auch übersetzte
Uberlieferung durch die indirekte ergänzt, die aus griechischen
und syrischen Fragmenten besteht. Das Vorhandensein
zweier vollständiger Übersetzungen ermutigte die Herausgeber von
Buch IV und V. das griechische Original zu rekonstruieren. Sie verzichteten
allerdings auf den Weg, im kritischen Apparat jeweils die
ursprüngliche Formulierung des Irenaus, so wie sie diese erschlossen
, anzugeben, sondern behielten diesen Schritt der französischen
Übersetzung und der griechischen Retroversion vor. Buchtech -
nisch wird der erste Schritt, der in der Reeensio der einzelnen Überlieferungszweige
jeweils für sich besteht und nur bis zur ursprünglichen
Fassung der Übersetzung oder eines Fragmentes bei den
Zitierenden zurückgeht, sehr deutlich gemacht: Alles dies findet
man auf der linken Seite der Ausgabe, die doppelte Rekonstruktion
dagogen auf der rechten. Diese Anlage hat den Vorzug, die angenommene
ursprüngliche Fassung des Irenaus deutlieh von der
gegebenen Überlieferung und ihrer- kritischen Prüfung abzuheben,
Einen Nachteil könnte man darin sehen, daß der Benutzer sich nie
mit den Texten allein befassen darf, wenn er die letzte Meinung der