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Ausgabe:

1977

Spalte:

469-472

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Brunnert, Gerhard

Titel/Untertitel:

Glaubenserfahrung und Psychotherapie 1977

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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der Menschen heute, auf die Frage nach Gott, nach dem Heil,
dem Sinn des Lebens usw. Die Verknüpfung des Glaubens
mit der eigenen Existenz muß sichtbar und erlebbar werden
." (S. 271).

Gerta Scharffenorth, als einzige Frau unter den
Autoren, zeigt den Spielraum auf, der in einer Voltekirche
für Reformen möglich ist. Sie verarbeitet dabei Impulse der
früheren Diskussion und stellt die Kommunikation als Voraussetzung
für Stabilität und Erneuerung der Kirche deutlich
heraus.

Insgesamt mutet den Rez. vieles, was in diesem Sammelband
zu lesen war, wie „ein Lied aus alten Zeiten" an. Wer
erlebt hat, wie die „Volkskirche im Ernstfall" auf weiten
Strecken versagt hat, kann nicht mehr so optimistisch von
den Amtshandlungen reden als den Ausdruck einer „volkskirchlichen
Spiritualität" (S. 168). Es ist überhaupt ein Mangel
dieses Buches, daß nicht an einer Stelle — und wäre es
nur in den Anmerkungen gewesen! — DDR-Erfahrungen
aufgenommen wurden. Gewiß, die EKD muß unter ihren
gesellschaftlichen Voraussetzungen aus einer „Volkskirche
vorm Umbruch" das Beste zu machen versuchen. Wir sind
indes dabei, weil die „äußere Stabilität" unter bestimmten
Voraussetzungen sich als sehr brüchig erweisen kann, zur
„inneren Stabilität" und damit zur Erneuerung von innen
her vorzustoßen.

Leipzig Gottfried Kretzschmar

Brunnert, Gerhard: Glaubenserfahrung und Psychotherapie.

Predigten eines Analytikers. Mit einem Geleitwort von
J. Scharfenberg. München: Claudius Verlag [1973]. 276 S.
8°. DM 19.80.

Gerhard Brunnert, Jahrgang 1932, ist seit 1958 Gemeindepfarrer
in der Nähe Göttingens und hat 1962—1972 eine Ausbildung
zum Psychoanalytiker und Psychotherapeuten absolviert
und ist nebenamtlich in der Beratungsarbeit verankert
. Mit einer Ausnahme — einer Kandidatenpredigt von
1957 — stammen die 39 Predigten und die beiden Zeitungsworte
aus dem Zeitraum zwischen 1962 und 1972, vor allem
aus den Jahren 1968-1971.

Im Vorwort bittet Brunnert bezüglich „schwacher Punkte
", „sei es vom Standpunkt der Theologie oder von dem der
Psychoanalyse aus gesehen", „um Nachsicht und Verständnis
... in Anbetracht der beruflichen Anforderung, Sonntag
für Sonntag vierzehn Jahre hindurch in drei Gemeinden die
Botschaft der Bibel immer wieder kreativ zu erfassen und
glaubwürdig und überzeugend zu verkündigen" (S. 17/18).
Liest man in der Kurzbiographie des Autors dann noch, was
neben dieser Predigttätigkeit innerhalb und außerhalb der
Gemeinde an Arbeit auf dem Autor ruht, wird man gern
seiner Aufforderung nachkommen wollen, „sich nicht über
einzelne Aussagen zu sehr zu ärgern; sondern das Ganze
auf sich wirken zu lassen" (S. 19). Aber bei aller Bewunderung
für das wirklich erstaunliche Leistungsvermögen des
Autors steht nun eben doch zu befürchten, daß er sich mit
so mancher Einseitigkeit und allzu ungeschützten Formulierung
— auf dem Schutzumschlag prangt als Motto: „Es erfordert
ein ausdauerndes Training, bis der Prediger die
innere Sicherheit erlangt, seine echten Gefühle und wahren
Gedanken zu respektieren und nicht weiter zu verdrängen"
— seinem grundsätzlich nur zu bejahenden Anliegen einer
stärker psychologisch orientierten und „auch um soziale,
politische und theologische Aufklärung und Hilfe" (17) bemühten
Predigtweise selbst im Wege steht. Vielleicht wäre
eine an qualitativen Gesichtspunkten orientierte zahlenmäßige
Beschränkung und Überarbeitung der zu veröffentlichenden
Predigten dem Anliegen des Autors doch dienlicher
gewesen, denn neben den unübersehbaren Schwächen
gibt es auch viele ausgesprochen gelungene, sehr anregende
Predigten und Predigtpartien. Das Erscheinen des Buches
'st sehr begrüßenswert.

Läßt man das Ganze auf sich wirken, so fordern u. E. insbesondere
die den Predigten zahlreich beigegebenen psychologisch
aufklärenden und interpretierenden Anmerkungen
zur Kritik heraus, in denen sich eine starke Abhängigkeit von
psychoanalytischen Schulbehauptungen auswirkt, insbesondere
wird ständig E. Fromm mit seinen beiden Büchern
Psychoanalyse und Ethik bzw. Religion herangezogen. Laut
Namensregister taucht nach Jesus von Nazareth (61 mal) der
Name Fromm am häufigsten, nämlich 30mal, auf. Auch
wer Erkenntnissen der Tiefenpsychologie grundsätzlich aufgeschlossen
gegenübersteht, wird bei Lektüre dieser Anmerkungen
wohl häufiger mit Verwunderung und auch Ärger
reagieren. Um nicht ganz auf Belege zu verzichten, zitieren
wir die kurze Anmerkung auf S. 139, wo im Hinblick auf
eine Erwähnung der blutigen Kämpfe der Gegenreformation
in der Predigt selbst dann dazu der Kommentar gegeben
wird: „Religions- und Ideologiekriege sind Ausdruck
des unbewältigten ödipalen Konflikts und der inzestuösen
Fixierung auf die idealisierte eigene Gruppe und der Ver-
teufelung der fremden Nachbargruppe." Ist mit dieser vereinfachenden
, einseitigen Ableitung wirklich schon die zureichende
Erklärung geliefert? Wir meinen, hier sei bestenfalls
ein Aspekt unter anderen mindestens ebenso gewichtigen
Aspekten erfaßt. Es ist freilich zu bedenken, daß der
Autor im Hinblick auf sein Verhältnis zu Fromm sagt, daß
er „an dem psychoanalytischen Werk Erich Fromms" „eine
vorläufige mich teilweise befriedigende systematische Orientierung
" gefunden habe (S. 21).

Vor allem aber muß nun positiv gesagt werden, daß die
psychologischen Ausführungen der Predigt selbst weitestgehend
frei von Schulterminologie und -behauptungen und
allgemein einleuchtend und ausgesprochen hilfreich sind.
Hier werden der Gemeinde u. E. wesentliche psychologische
Hilfen für ihr Leben gegeben. Das macht die Stärke und
das anregend Vorbildhafte dieser Predigten aus. Wir nennen
als ein Beispiel nur die Traupredigt. Freilich wird auch
an dieser Predigt deutlich, was auch sonst sehr stark zu beobachten
ist, daß nämlich die Verbindungslinien vom Glauben
zur Psychologie relativ schwach und oft auch etwas unkonkret
ausgezogen werden. In den Anmerkungen vor allem
und auch in den Predigten selbst wird zwar recht häufig auf
psychologische Ursachen von wirklichen oder vermeintlichen
Fehlformen des Glaubens (übermäßige Verhaftung an die
Tradition, an Fremdautorität usw.) verwiesen, aber der
konkrete Aufweis der im Glauben liegenden Lebenshilfe
fällt u. E. schwach aus, wenn man bedenkt, wieviel Gutes
und Hilfreiches hierüber in der Vergangenheit bereits gesagt
wurde.

Das hängt wohl letztlich mit der theologischen Position
des Autors zusammen, die nicht nur aus den Predigten und
Anmerkungen, sondern auch aus einer den Predigten zusätzlich
zum Vorwort noch beigegebenen Einleitung deutlich
wird. In einer unsererseits zugegebenermaßen einseitigen
und letztlich nicht ganz haltbaren Zuspitzung und Pointierung
möchten wir die Theologie Brunnerts dahingehend
charakterisieren, daß ihm an der Zuständlichkeit von Glaube
, Hoffnung, Liebe mehr liegt als an ihrer Gegenständlichkeit
, d. h. der sie tragenden Wirklichkeit des doch nicht nur
immanenten, sondern auch immer zugleich transzendenten
Gottes. Insbesondere wird nicht deutlich, ob es für Brunnert
eigentlich eine Hoffnung über den Tod hinaus gibt.

Es ist notwendig und. richtig, daß wir — das ist ein Grundtenor
bei Brunnert — in unserer Verkündigung das Zutrauen
zu den Kräften und Potenzen, die Gott in den Menschen
hineingelegt hat, stärken und zu ihrem Gebrauch ermutigen,
sowohl im Hinblick auf die Kräfte von Vernunft und Erkenntnis
als auch von Liebe und Solidarität. Aber wer in
Anknüpfung an das positive Erbe der Aufklärungszeit, der
auch die Sympathie des Rezensenten gilt, um eine denkende,
humanitäre Frömmigkeit für unsere Gegenwart bemüht ist,
muß auch die eindeutige Lehre der Geschichte beherzigen,
daß Aufklärung, wo sie der Gefahr der Verflachung erliegt,
unweigerlich stirbt. Zwar polemisiert Brunnert gegen den
Aberglauben der Wissenschaftsgläubigkeit" (S. 31), aber