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Ausgabe:

1977

Spalte:

467-469

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Erneuerung der Kirche 1977

Rezensent:

Kretzschmar, Gottfried

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467

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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unter den Mann, das Urteil über die Sklaverei) gilt, daß
sie als zeitbedingt angesehen werden müssen.

„Neun Sätze zur christlichen Ethik" von Hans Urs von
Balthasar (S. 67—93) gehen von der Vollendung der
Sittlichkeit in Christus als der konkret-universalen Norm
aus und fragen von dorther nach alttestamentlichen Elementen
und nach Fragmenten außerbiblischer Ethik, die an
der Natur oder der Struktur des Menschseins sich orientiert.
Alles menschliche Streben nach dem Guten wird integriert
in das umfassende Insein in Gott, das als Ziel aller ethischen
Normierung sich in Jesus Christus darbietet.

Das kleine Büchlein vermittelt einen guten Eindruck von
der grundsätzlichen Position der römisch-katholischen Theologie
in der Frage nach den ethischen Normen, ohne allerdings
Ansätze zu einer breiteren Berücksichtigung der Situation
zu zeigen, die von anderen römisch-katholischen
Moraltheologen schon gesucht werden.

Leipzig Joachim Wiebering

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Matthes, Joachim [Hrsg.]: Erneuerung der Kirche. Stabilität
als Chance? Konsequenzen aus einer Umfrage. Gelnhausen
-Berlin: Burckhardthaus-Verlag [1975]. 302 S. m. Tabellen
8° = Empirische Untersuchungen in der Evangelischen
Kirche in Deutschland.

Hier ist ein Buch über ein Buch geschrieben worden! Genauer
gesagt: Knapp zwei Jahre nach dem Erscheinen der
EKD-Umfrage „Wie stabil ist die Kirche? — Bestand und
Erneuerung" (hrsg. von Helmut Hild, Burckhardthaus-Verlag
Gelnhausen-Berlin 1974, 385 S.) hat der Bielefelder Religionssoziologe
Joachim Matthes einen Band innerhalb der
Reihe „Empirische Untersuchungen in der Evangelischen
Kirche in Deutschland" herausgegeben, an dem zwölf weitere
Autoren — Juristen, Pädagogen, Soziologen und Theologen
— in einer nicht immer leicht verständlichen Sprache
mitgearbeitet haben. Es handelt sich dabei weithin um diejenigen
, die bereits bei der Umfrage der EKD verantwortlich
zeichneten. Einer von ihnen ist nicht mehr unter den Lebenden
: Ernst Lange — seinem Gedenken ist der neue Band
gewidmet, sosehr er in ihm noch mit einem gewichtigen Beitrag
: „Bildung als Problem und als Funktion der Kirche"
(S. 189-222) vertreten ist, der u. a. ein Licht auf das Bildungsdilemma
der Kirche wirft. Mit der Forderung, den Zusammenhang
von Glauben und Lernen, von Glaubenswissen
und Erfahrungswissen zum Thema zu machen, hat er sowohl
ein theologisches als auch praktisches Programm entworfen.

Worum geht es in diesem inhaltlich außerordentlich komplexen
Buch? Weil sich die Diskussion um die 1974 erschienene
Studie weitgehend auf die kirchensoziologische Erhebung
und ihre Deutung konzentrierte, die Blickwendüng
aber in Richtung „Erneuerung der Kirche" zu kurz kam —
ein Anliegen, das den Verantwortlichen bereits beim ersten
Band wichtig war —, sollte nun dieser Aspekt stärker herausgestellt
und die Einsicht in den Nutzen empirischer Studien
für die theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis
gefördert werden.

Eingangs nimmt Hartmut Kr ebber das Schlüsselwort
..Stabilität" aus der EKD-Umfrage noch einmal auf und
bahnt eine Differenzierung dieses Begriffes an, so ungewöhnlich
diese Vokabel in bezug auf die Kirche bisher war.

Welche Ziele aber werden nun für die Erneuerung der
Kirche, die ja immer eine Erneuerung der Volkskirche ist,
benannt? Rüdiger S c h 1 o z nimmt das Untersuchungsergebnis
auf und stellt fest: Diese Reform der Kirche kann
nur als Erneuerung der alten Kirche verstanden werden,
denn die Intention der Mitglieder richtet sich im Grunde auf
eine Kirche, die neue Möglichkeiten bietet, aber in der Qualität
dessen, was sich mit der alten Kirche verbindet. Und
dennoch steht fest, daß es keine wirkliche Erneuerung der

Kirche geben kann, bei der nicht auch Horizonte der alten
Kirche gesprengt werden. Trutz Rendtorff steuert eine theoretische
Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft
bei und erschwert all denjenigen das Handwerk,
die zu schnell eine praktische Nutzanwendung aus der Mitgliedschaftserhebung
ableiten wollen.

Joachim Matthes macht dann mit Recht auf die Bedeutung
der Amtshandlungen für das Leben der Volkskirche
aufmerksam: „Es gibt eine Form volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens
, die sich vornehmlich auf die Amtshandlungen
, aber auch auf solche gottesdienstliche Veranstaltungen
bezieht, die einen besonderen Stellenwert im Lebenszyklus
und im Jahresrhythmus haben und darin
soziokulturell abgestützt sind" (S. 110). Für die Strategie
volkskirchlichen Handelns ist dann eine „Verlagerung der
Handlungsprioritäten in Richtung auf die Amtshandlungen"
und eine ausgebaute Kasualseelsorge zu fordern (S. 111).

Karl-Wilhelm D a h m stellt „die Unterschiedlichkeit, ja
Diffusität der Verbundenheitsgefühle und Zugehörigkeitsbegründungen
seitens der Mitglieder gegenüber der Volkskirche
" (S. 117) heraus. Anhand von sechs Beispielen zeigt
er, daß die Kirchenglieder geistliches Leben, christliche
Grundwerte, Seelsorge, rituelle Begleitung in der Form von
Amtshandlungen, Diakonie und politisches Engagement von
der Volkskirche erwarten. Wohl um die Gefahren solcher
Typisierung wissend, sieht der Verfasser in ihnen doch Ver-
stehenshilfen. Sodann erkennt er es als eine wichtige Aufgabe
der Kirche, die auseinanderstrebenden Wirklichkeitsbereiche
zu verklammern, weil eben die Ubereinstimmung
mit der Kirche „in dogmaticis" nicht das alleinige Kriterium
der Gesamtstabilität der Volkskirche ausmacht.

Peter Krusche geht dann auf den „Pfarrer in der
Schlüsselrolle" (S. 161) ein und zeigt die Berufskonflikte im
Schnittpunkt religiös-volkskirchlicher Erwartungen und
theologischer Normen. Er macht deutlich, daß nach wie vor
der Pfarrer die zentrale Bezugsperson für das, was Kirche in
der Gesellschaft repräsentiert, ist. Er erfreut sich allgemeiner
Hochschätzung und wird unter verschiedenen Aspekten
gesehen: Darsteller einer religiösen Institution, Vermittler
von Werten, Garant für sinnvolle Tradition, Funktionär
einer Organisation und Kontaktflgur. Die Mitglieder wünschen
die „Mehrfunktionalität der pastoralen Berufsrolle"
(S. 164). Gerade diese Erwartungen, so folgert Krusche, setzen
jeder bloßen Spezialisierung auf ein bestimmtes Tätigkeitsfeld
Grenzen. Er fordert mit Nachdruck, aus diesen
Erkenntnissen Konsequenzen für die Pfarrerausbildung zu
ziehen. Besonders der Erwerb „kommunikativer Kompetenz
" (S. 184) ist nötig, d. h. die Fähigkeit, sich als Partner
auf den anderen einzulassen.

Ein Sammelbeitrag von Brockmann/ Schmidt/
S t o o d t und V e i d t kommt aus dem Bereich der Religionspädagogik
und nimmt noch einmal das Bildungsanliegen
auf, so wie das vorher bereits Ernst Lange getan hatte.
Diesmal geht es um „Kirche im Übergang von der traditio-
nalen zur Lerngesellschaft" (S. 223-254). Die Bildung wird
als durchgehender Aspekt kirchlichen Handelns herausgestellt
, und es werden verschiedene Handlungsebenen (z. B.
Parochie, Region, Weltbünde, Ökumene) reflektiert. Da nach
Meinung der Vf. die Kirche die Aufgabe hat, „die Gesellschaft
in ihrem Übergang von der traditionalen Gesellschaft
zur Lerngesellschaft kritisch zu begleiten" (S. 240), macht
man sich Überlegungen zum Religions- und Konflrmanden-
unterricht, zur Erwachsenenbildung und zum Gottesdienst,
die interessant und nachdenkenswert sind.

Jürgen Linnewedel fragt als „Laie" schließlich nach
der „inneren Stabilität der Kirche" (S. 255) und nach dem
„proprium" als den zentralen christlichen Glaubenssätzen.
Er will wissen: „Wie soll man die Brücke schlagen ... zu
jener dissentierenden Mehrheit.... die Jesus nur als Menschen
zu begreifen vermag (oder dies jedenfalls angibt)?"
(S. 265). Und seine Antwort heißt: „Die Kirche muß ihre
Glaubensaussagen so darstellen, daß sie überzeugende Antworten
bieten auf die Sinn-. Existenz- und Glaubensfragen