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Ausgabe:

1977

Spalte:

460-463

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schilson, Arno

Titel/Untertitel:

Geschichte im Horizont der Vorsehung 1977

Rezensent:

Mau, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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Unter diesem Ansatz, der wesentlich durch G. C. Berkou-
wer und H. Kraemer gestützt wird, führt der Vf. seine radikal
biblisch orientierte Darstellung der Vollkommenheits-
frage durch: II. Die charakteristische Idee göttlicher Vollkommenheit
im Alten Testament (35—50); III. Die charakteristische
Idee menschlicher Vollkommenheit im Alten Testament
(51—158); IV. Christus und das apostolische Ethos
der Vollkommenheit (159—245). Nach dieser systematischtheologischen
Aufarbeitung der biblischen Theologie, und
zwar, vom Thema veranlaßt, auf wichtige theologische
Grundkategorien (Schöpfung, Sünde, Erlösung, Imago Dei,
Vollendung) eingehend, stellt sich Vf. der anfangs genannten
Hauptaufgabe, nämlich „the constitutive elements or
characteristics of ,perfectionism"' herauszustellen (3): V. An
analysis and an evaluation of phenomenal perfectionism
(246—324). Dieses Kapitel behandelt die im Grunde zwar als
Extremisten empfundenen Gruppen von der Qumran-Ge-
meinschaft bis zum Wesleyschen Methodismus, die aber
vielleicht für eine katholisch-evangelische Synthese von
Heiligkeit und Gnade Anstöße geben könnten (dazu unten).
Ob nun Analyse und Bewertung der repräsentativ gewählten
Gruppen den Perfektionismus bzw. dessen konstitutive
Elemente für jeden Historiker befriedigend erfassen, sei dahingestellt
. Für den beabsichtigten Hauptzweck, die negative
Definition an konkreten Phänomenen zu überprüfen, genügt
das Vorgelegte. Allerdings laufen die Interessen unterschiedlich
intensiv. Für die Qumran-Gemeinschaft (247 bis
275) und John Wesley (309-324) ist durch Zitate auch neuester
Diskussionsbeiträge über deren Einschätzung viel
Raum, für die Enkratiten, die Montanisten und Novatianer
wenig, für Pelagius (287), für die christlichen Platonisten
von Alexandria (695), speziell Clemens (296) und Origenes
(298) etwas mehr. Unter dem monastischen Weg zur Vollkommenheit
(301—309) ist von vielen die Rede, mehrfach
aber auch nur mit Hinweisen. Thomas von Aquino und
Joachim von Fiore sind näher eingeordnet. Der Vf. wollte
freilich den Perfektionismus von dem biblischen Verständnis
von Vollkommenheit abheben, und dazu hat er gründliche
biblische Studien getrieben. Erwähnt seien Fragestellungen
wie: „Definiert das Alte Testament Vollkommenheit
als Sündlosigkeit?" (109 ff.: Ps 19; 15; 18 u. 101; 7 u. 26; 37
u. 119 werden darauf geprüft) oder: „Militia Christiana in
Römer 7?" (211—227). Dieses Stück ist ein Musterbeispiel
für sorgsame Darlegung von Forschungsergebnissen mit der
abschließenden Feststellung, Rom 7 gipfele in doxologischem
Bekenntnis. Es sei nicht verwunderlich, daß alle Versuche
der Theologie, dieses tiefreligiöse Zeugnis des Paulus rational
verständlich zu machen, scheitern mußten. Die Wechselbeziehung
von Gesetz und Gnade gehöre gleichsam zum
Wunder Gottes. „In Anwendung auf die christliche Existenz
werden wir dazu geführt, das Zeugnis von Rom 7,14—25 mit
Luthers theologischer Aussage, daß der Christ ,simul iustus
et peccator' ist, in eins zu sehen; nicht in dem Sinne von teils
gerecht und teils ein Sünder, sondern zugleich vollkommen
gerecht und vollkommen sündig, auf diese Weise über alle
logischen und psychologisch-anthropologischen Erwägungen
hinausgehend." - Vf. beruft sich (226 f.) auf E. Ellwein und
W. Joest in KuD 1, auf D. Demmer, M. Schwintek, A. Nygren;
sicher nicht bei allen mit der speziellen Bemerkung gestützt,
daß nur nach 1531, noch nicht früher, diese, wie er meint,
„forensic imputation" vorhanden sei.

In der Tat, „Heiligung in biblischer Sicht meint entschieden
nicht, daß sich ein Christ rechtschaffen und heilig fühlt
(feeling of holiness and righteousness), sondern eher das
gerade Gegenteil" (223). Mit dieser Einsicht die Exegese
nicht nur unproblematischer Stellen wie Mt 5,48 und 19,21
(dazu 159—183), sondern auch problematischer Texte wie
Uoh 3,9; 2 Petr 1,4 und Hebr 10,2 zu verfolgen (227-245),
ist keine leichte Sache. Im Endergebnis kann Vf. nichts Umstürzendes
vorlegen, aber die Sicherung so grundwichtiger
Erkenntnisse christlicher Theologie durch Detailuntersuchungen
, die ihm gelungen sind, ebnet den Weg zu gemeinsamen
Lehraussagen.

So darf dem Schlußergebnis, welches z. T. erst als Sum-
mary vorgelegt wird, in der Hauptsache zugestimmt werden,
auch wenn mancherlei Fragen offenbleiben und neue geweckt
werden. Mindestens drei allgemeine Trends sind deutlich
: Perfektionistische Bewegungen entspringen 1. in Zeiten
zunehmender religiös-moralischer Lethargie als Gegenwille
. Dies wertet Vf. „als Zeichen legitimer Unzufriedenheit
und eines ernsten Willens, den biblischen Befehlen zu
gehorchen, um vollkommen vor Gott zu wandeln, oder Jesus
Christus in ganz konkreter Realität nach seinem Wort nachzufolgen
" (325). Sie führen 2. zu „mehr oder weniger getrennten
religiösen Gemeinschaften neben dem Hauptteil
der Gläubigen". Nur im Fall des mönchischen Perfektionismus
gelang seine Einbeziehung als legitimer Weg in die
röm.-kath. Kirche, allerdings um den hohen Preis einer
„doppelten Moralität", da sein Grundbezug „individualistische
Vollkommenheit" bleibe. Das führt 3. zu „Schaffung
und Anerkennung einer neuen Norm oder Autorität über
die eine hinaus, die von dem Bundesvolk Gottes als ganzem
angenommen wird". Aber diese Motive, die auf Bewußtsein
von Vollkommenheit und Teilhabe am Göttlichen im Sinne
„inhärenter Heiligkeit" zielen, seien „eine übereifrige Vorwegnahme
von Gottes apokalyptischem Akt der Erlösung".
Deshalb versage Perfektionismus an der Sünde. „Das Problem
der Sünde" könne nur gelöst werden, wenn „Christus
alle seine Feinde unter seine Füße gezwungen" habe (327). —
Das ist sicher real-biblisch, könnte aber auch als Abweichen
in abstrakt-eschatologische Vorstellungen angekreidet werden
, so daß die Betonung der Vollkommenheit als „vollkommene
Beziehung zu Gott und zu seinem Nächsten, sowohl
jetzt als auch in Zukunft" schließlich mehr überzeugt.

Errata: Abgesehen von Klein- statt Großschreibungen im
Deutschen, Endungs- und Satzzeichenfehlern sowie einigen
Namen, die verschrieben sind, muß es S. 26 m. „the dualistic"
statt „he", S. 46 o. „It" statt „Is", S. 56 A. 27 „Schöpfungsbericht
" statt ,,-gericht" heißen. E(va) Oßwald S. 251 A. 28
bedingt ein „She" statt „He", und S. 216 A. 245 im E.-Schwei-
zer- sowie im H.-Braun-Zitat (18) S. 258 fehlen Worte und
Buchstaben.

Jena Horst Belntker

Schilson, Arno: Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E.

Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz:
Matthias-Grünewald-Vlg. [1974]. 352 S. 8° = Tübinger
Theologische Studien, hrsg. von A. Auer, W. Kasper, H.
Küng, M. Seckler, 3. Kart. DM 36,-.

Fragen zum theologischen Denken Lessings, durch sein
vielgestaltiges Werk reichlich veranlaßt, haben die Forschung
seit jeher beschäftigt — mit erheblich divergierenden
Resultaten im einzelnen. Ist Lessing als deistisch-ver-
nunftgläubiger Aufklärer, als Pantheist im Sinne Spinozas,
als für das offenbarungsgläubige Christentum sich engagierender
„Theologe" zu verstehen? Die Einsicht, daß die
Breite der Meinungsskala mit Unterschieden des hermeneu-
tischen Ansatzes und der Methode zusammenhängt, veran-
laßte den Verfasser der hier vorzustellenden Tübinger katholisch
-theologischen Dissertation (1973; Referent: Walter
Kasper) zu besonderen Vorüberlegungen und kritischer
Sorgfalt hinsichtlich des eigenen Vorgehens. Zu Recht betont
Schilson, daß Lessing (gemäß seinem Selbstzeugnis)
nicht als „Theologe im Vollsinn des Wortes", „nicht als
Systematiker" und auch „nicht ausschließlich von seinen
möglichen oder tatsächlichen Quellen her" interpretiert werden
darf (35 f. 38). Die dem Denken Lessings angemessene
Frageintention müsse vielmehr dem „umrißhaft erkennbaren
Standort oder ,Horizont', in dem sich Lessings Denken
vollzieht", d. h. den „denkerische(n) und existentielle(n)
Grundeinstellungen, die sich formend und gestaltend auch
und gerade in bloßen Denk-Ansätzen zeigen und bewahrheiten
", gelten (37). Dazu aber müsse das Gesamtwerk Lessings
, die ganze Spanne seines sich entwickelnden Denkens,