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Ausgabe:

1977

Spalte:

445-447

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Benedictus de Nursia, Die Benediktus-Regel 1977

Rezensent:

Jaspert, Bernd

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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durch das Aufsuchen der angeführten Stellen erschwert
wird. Jedoch sollen und können diese kritischen Anmerkungen
den Wert der vorliegenden Arbeit nicht schmälern.
Dresden Gotthard Hiecke

Steidle OSB, Basilius [Hrsg.]: Die Benediktusregel, lateinisch
-deutsch, 2., Überarb. Auflage. Beuron: Beuroner
Kunstverlag [1975]. 211 S. 8°. Lw. DM 18,-.

Im Jahre 1963 gab der Beuroner Benediktinergelehrte
Basilius Steidle eine deutsch-lateinische Ausgabe der Regula
Benedicti (= RB) heraus (Beuron 1963). Diese Ausgabe
ist seither bewährte Textgrundlage vieler Universitätsseminare
über die Regel des hl. Benedikt gewesen. Selbstverständlich
war sie in erster Linie zur Benutzung in den
benediktinischen Klöstern deutscher Sprache gedacht, und
dort wurde sie auch eifrigst in den gemeinsamen und privaten
Lesungen benutzt. — Die erste, modernen wissenschaftlichen
Ansprüchen genügende textkritische Ausgabe bot drei
Jahre zuvor der Wiener Philologe Rudolf Hanslik 1960 im
Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum. Dieser Edition
lag eine Kollation von über 300 Handschriften zugrunde
, aus denen schließlich 63 Handschriften zur Konstituierung
des Textes in die engere Wahl gezogen wurden.
Leithandschrift war für Hanslik wie schon vor ihm für die
Editionen Germain Morins, Philibert Schmitz' und Gregorio
Pencos der Codex Sangallensis 914 aus dem Anfang des
9. Jhs. in Ubereinstimmung mit der Auffassung Ludwig
Traubes über die „Textgeschichte der Regula S. Benedicti"
(2. Auflage München 1910) hielt Hanslik diesen Textzeugen
für den weitaus besten im Hinblick auf eine Rekonstruktion
jenes Textes, der dem verlorengegangenen Original der
Regel am nächsten käme. Der schon von Forschern wie
Edmund Schmidt und Eduard Wölfflin am Ende des 19. Jhs.
für sehr beachtlich gehaltene Textzeuge O (= Codex Hatton
48, 8. Jh., heute in der Bodleian Library in Oxford) galt
für Hanslik damals durchaus nicht als ein zuverlässiger
Zeuge des ursprünglichen Regeltextes. Hierin stimmte er
mit Ludwig Traube überein. Diese Ansicht konnte auch
so lange aufrechterhalten werden, wie die Regelforschung
noch von einem weiteren wichtigen Zeugen der RB absah,
der sogenannten Regula Magistri (= RM). Seitdem aber
diese von einem bisher noch unbekannten Autor aus einer
noch unbekannten Zeit verfaßte Mönchsregel in das Blickfeld
der RB-Forscher gerückt war, bekam auch die Frage
nach dem Urtext und der ältesten Überlieferung der RB
neue Aktualität. Es zeigte sich nämlich, daß die RB weite
Passagen mit der RM wörtlich, andere Stellen inhaltlich gemeinsam
und verschiedene Anschauungen schließlich ähnlich
hat. Da die Uberlieferung der RM aufgrund der uns erhaltenen
wenigen Handschriften (Codex E [vor 600]: Ms lat.
12 634 Paris, Bibliotheque Nationale; Codex P [um 600]: Ms
lat. 12 205 Paris, Bibliotheque Nationale; Codex A [nach 800]:
Ms lat. 28 118 München, Bayer. Staatsbibliothek) auf den
ersten Blick einfacher zu sein scheint als die Uberlieferung
der RB, wird man auch die Frage nach dem Stellenwert der
einzelnen RB-Zeugen für eine Rekonstruktion des Textes
neu stellen können. Hanslik hatte seinerzeit noch angenommen
, daß die RM später verfaßt wurde als die RB und insofern
für die Textkonstituierung der benediktinischen Regel
keinerlei Bedeutung habe. Inzwischen hat auch er aufgrund
der seit 1938 geführten Kontroverse um die beiden
Regeln seine Meinung geändert. So teilte er auf dem Ersten
Internationalen Regula Benedicti-Kongreß 1971 in Rom mit,
auch er nehme heute die RM als eine Vorläuferin der RB an
und gebe zu, daß Benedikt auf weite Strecken hin vom Magister
abhängig sei. Die Frage bliebe allerdings, in welcher
Weise (vgl. Regulae Benedicti Studia. Annuarium Internationale
, Bd. 1, in Verbindung mit R. Hanslik, A. Linage
Conde, F. Masai, F. Sandeman OSB, A. Veilleux OCR hrsg.
v- B. Jaspert, E. Manning OCR, Hildesheim 1972, S. 195 bis
207). Die neuere Forschung verdankt den Anstoß zu dieser

Frage dem französischen Benediktiner Augustin Genestout.
Seit 1937, also jenem Jahr, in dem Genestout zum ersten Mal
die Priorität der RM vor der RB behauptet hatte, haben
zahlreiche Gelehrte aus Frankreich, Belgien, Italien, Spanien
, Deutschland, England, Amerika, Österreich, der Schweiz
und Holland an der Diskussion um die Bedeutung der RM
für die RB teilgenommen. Es entwickelte sich während des
Zweiten Weltkrieges bis schließlich in die sechziger Jahre
hinein eine regelrechte Kontroverse (vgl. dazu jetzt B. Jaspert
, Die Regula Benedicti-Regula Magistri-Kontroverse,
Hildesheim 1975). Heute kann man sagen, daß die Frage
nach der Bedeutung der RM dahingehend entschieden ist,
daß Benedikt in weiten Teilen seiner Regel dem Magister
verpflichtet ist, allerdings nicht in sklavischer Manier seine
Vorlage abgeschrieben hat, sondern sich durchaus als selbständiger
Denker und monastischer Gesetzgeber erwiesen
hat. Das zeigt die RB-Ausgabe mit Kommentar von Adalbert
de Vogüe sehr schön (6 Bde., Sources Chretiennes 181 bis
186, Paris 1971—1972). Im übrigen darf nicht übersehen werden
, daß Benedikt in seinem Regelwerk, das neben der Hl.
Schrift im europäischen Mittelalter die meist verbreitete
christliche Schrift war, eine Synthese aus den besten alt-
monastischen Zeugen des Ostens und Westens bietet. Benedikts
Werk ist durchaus eine Meisterleistung, auch wenn
sein Verfasser selbst, wie Basilius Steidle vor Jahren behauptet
hat, kein bedeutender Theologe gewesen sein sollte.
— Die soeben in kurzen Strichen skizzierte Forschungslage
bietet den Hintergrund der Neuausgabe der RB, die Basilius
Steidle 1975 vorgelegt hat. Die zweite Auflage seiner lateinisch
-deutschen Ausgabe unterscheidet sich von der ersten aus
dem Jahre 1963 grundlegend dadurch, daß der Herausgeber
nun auch die RM im Text kenntlich macht durch entsprechenden
Druck. Überall da, wo Benedikt und Magister einen
gemeinsamen Text bieten, steht Fettdruck. Alle biblischen
und patristischen Zitate sind in Kursivdruck gesetzt, um auf
diese Weise dem Leser augenfällig darzutun, wie sehr Benedikt
ein Mann der biblischen und kirchlichen Tradition war.
Die von Gregor dem Großen an ihm gerühmte Weisheit und
Besinnlichkeit hat hier ihren Grund: Benedikt war ein in
der Bibel bewanderter Mann, ein „Lebemeister", der seinen
Mönchen die Bibel als alleinige Richtschnur ihres Lebens
vor Augen führen wollte: mit Hilfe seiner Regula. Die Bibel
und ihr Kerygma sollten Mittelpunkt des monastischen Lebens
sein, alles und jedes im Kloster und im Mönchsleben
sollte im Licht der Bibel und ihrer Botschaft geschehen. Über
die biblischen Grundlagen der RB ist viel geschrieben worden
(vgl. z. B. S. Pawlowsky, Die biblischen Grundlagen der
Regula Benedicti, Wien 1965), und niemand zweifelt heute
mehr daran, daß kaum ein monastischer Gesetzgeber so
biblozentrisch orientiert war wie Benedikt von Nursia.
Steidles Ausgabe kann das aufs neue bestätigen. Das große
Verdienst dieser Ausgabe liegt weniger in ihrer wissenschaftlichen
Korrektheit, was den dargebotenen Text betrifft
, sondern in der guten deutschen Übersetzung. Dennoch
sei betont, daß es Steidle gelungen ist, einen lateinischen
Text der Regula herzustellen, der mit aller Methode wissenschaftlicher
Akribie begründet werden kann. Grundlage
dieses Textes ist der Codex Sangallensis 914, ergänzt bzw.
korrigiert durch den Codex Hatton 48 sowie den Codex P
der RM. Die jeweiligen Lesarten sind im kritischen Apparat
angegeben und können entsprechend kontrolliert werden.
Darüber hinaus bietet Steidle vielfältige Nachweise der biblischen
und patristischen Zitate und Schriftanklänge. Seine
Absicht war nicht eine textkritische Ausgabe, wie sie seinerzeit
Hanslik in hervorragender Weise versuchte, sondern
ausdrücklich eine praktische, die sich im Unterschied zu
einer diplomatischen und einer textkritischen Ausgabe
„nicht an Fachphilologen, sondern an einen Personenkreds
wendet, der kein unmittelbares philologisches, sondern zunächst
sachliches Interesse an der RB hat" (S. 49).
Der Leserkreis, mit dem Steidle hier rechnet, sind zunächst
Menschen, die die RB im Kloster oder auch außerhalb der
Klostermauern als eine Hilfe für ihr persönliches, Christ-