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Ausgabe:

1977

Spalte:

441-445

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Wrede, Gösta

Titel/Untertitel:

Unio mystica 1977

Rezensent:

Hiecke, Paul Gotthard

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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1899 (Die synoptische Frage 45-49) und J. Schmid 1930 (Matthäus
und Lukas 33-81) als Marksteine der Synoptikerforschung
stehen. Es scheint sich schon jetzt abzuzeichnen, daß
die Forschungsgeschichte einmal F. Neirynck das Verdienst
wird zuerkennen müssen, entscheidend für die Durchsetzung
der synoptischen Zweiquellentheorie in seinem Sprachraum
gewirkt zu haben; seine ständige Auseinandersetzung
mit anderen Interpretationsmodellen in Aufsätzen, Materialsammlungen
(vgl. ThLZ 99, 1974 Sp. 107-110) und Einzelanalysen
wirken in der angezeigten Richtung auch in den
englischen Sprachraum hinein.

Die Bedeutung dieser entsagungsvollen Kleinarbeit kann
kaum hoch genug veranschlagt werden. Die von Neirynck
besorgten Materialsammlungen sind Vorarbeiten für eine
künftige Synopse, die zur Entlastung der Kommentare und
der Vorarbeit des einzelnen Benutzers mehrfarbig auf der
Basis der Zweiquellentheorie gedruckt werden und neben
dem textkritischen auch einen stilanalytischen Apparat haben
müßte, dessen Register die Sprachverwendung der Traditionsschichten
gebündelt aufzeigt.

Zeitz Wolfgang Schenk

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Wrede, Gösta: Unio Mystica. Probleme der Erfahrung bei
Johannes Tauler. Uppsala-Stockholm: Almqvist & Wiksell
1974. 294 S. gr. 8° = Acta Universitatis Upsaliensis. Studia
Doctrine Christianae Upsaliensia, ed. by A. Gyllenkrok, 14.

Bereits 1969 hat G. Wrede eine Tauler-Studie (Zur Frage
des Gottesbegriffes bei Johannes Tauler; Studia Theolo-
gica 23, 1969) vorgelegt. In der nun vorliegenden religions-
phänomenologischen Untersuchung soll gezeigt werden, „in
welchem Umfang und in welcher Weise" Taulers Mystik
„erfahrungsbegründet" (S. 37) ist. Den drei Hauptteilen
„Gott", „Mensch" und „Unio mystica" ist eine Einleitung
vorangestellt, in der ein kurzer Überblick über Taulers Leben
vermittelt, die Quellenfrage erörtert und die Aufgabe
umrissen wird sowie die der Untersuchung zugrunde gelegten
Methoden dargelegt werden (S. 13—45). Jedem der drei
Teile wird ein „Hauptzitat" genannter Tauler-Text vorangestellt
, der in den folgenden Ausführungen analysiert und
im Zusammenhang mit anderen Textstellen kommentiert
wird.

Im ersten Teil (S. 47-92) wird Taulers Gottesbegriff entwickelt
. Zunächst werden die scholastischen Termini existen-
tia, essentia, esse und Taulers „istikeit" besprochen und
Gottes Wesen als „minne" beschrieben (Kap. I: „Grundlegende
Begriffsbestimmungen: Sein und Liebe"; S. 48—57).
Sodann wendet sich der Vf. den Termini zu, die im scholastischen
Sprachgebrauch weniger gebräuchlich sind, aber „das
für Taulers Gottesauffassung Spezifische" (S. 58) angeben:
„Nichts" und „Finsternis", „Tiefe", „Abgrund" und „Grund"
(Kap. II: „Erfahrungsbestimmte Gottesauffassung und scholastische
Anschauung"; S. 58—67). Diese Termini ergeben
sich aus der persönlichen Erfahrung des Menschen. Sie bezeichnen
, „wie der Mensch sein Verhältnis zu Gott erlebt
" und werden von Tauler „direkt auf Gott übertragen"
(S. 66). Hinsichtlich der Herkunft dieser Termini wird auf
Eckhart („Nichts"), Thomas („Finsternis") und Ps.-Dionysius
(„Finsternis", „Abgrund") verwiesen. Dem neuplatonischen
Einfluß auf Taulers Gottesauffassung wendet sich der
Vf. im Kap. III („Erfahrungsbestimmte Gottesauffassung
und neuplatonische Anschauungen" ; S. 68—80) zu Mit den
positiven Aussagen über den namenlosen Gott, die auch zum
Ausdruck bringen, daß „Gott für die Gedanken des Menschen
unerreichbar ist" (S. 72), wird etwas über Gott als den
Ursprung des Menschen ausgesagt. Doch ist für „Taulers
Gedanken von Gott als Grund und Ursprung nicht die
Schöpfung, sondern die Emanation" das charakteristischste
'S. 73). Neuplatonischer Einfluß ist auch hinter der gern von

Tauler verwendeten Gottesbezeichnung „das Gute" (Ps.-
Dionysius) und hinter der Vorstellung von Gottes Einheit
(Proklus) anzunehmen. Die Frage aber, auf welchem Wege
Gedanken aus Proklus' De Providentia et fato zu Tauler gelangt
sind, muß allerdings offenbleiben. „In einer Zusammenfassung
über die Eigenart der Gottesauffassung bei
Tauler" wird Kap. IV versucht, „näher zu beschreiben, was
persönliche Erfahrung laut Tauler ist", und „aufgezeigt,
welche Bedeutung diese Erfahrung für seine Gottesauffassung
hat" (S. 44). Obwohl für die Gottesbeziehung des Menschen
Gott allein bestimmend ist, ist für ihr Zustandekommen
die Aktivität des Menschen, mit der er seinen Willen in
den Willen Gottes einordnet, erforderlich. Taulers Mystik ist
daher auch „als voluntaristisch-persönlich zu verstehen"
(S. 86), und neben das neuplatonisch gefärbte Gottesbild tritt
das des persönlich wollenden Gottes, so daß sein Gottesbild
und seine Gottesauffassung von der voluntaristischen Erfahrung
des Menschen gekennzeichnet ist. Damit aber und aufgrund
der Unterscheidung von geschaffenem und ungeschaffenem
Sein wird eine pantheistische Taulerdeutung
ausgeschlossen.

Das Schwergewicht der Untersuchung liegt auf dem zweiten
Teil „Mensch", in dem eine Analyse der Taulerschen
Anthropologie gegeben wird (S. 93—202).

Im Kap. V („Der Mensch und die Natur" ; S. 95-114) wird
die Wertung des „äußeren Menschen" und dessen Bedeutung
für die unio mystica untersucht und Taulers Natur- und
Sündenauffassung vorgetragen. Aus beiden ergibt sich sowohl
die Forderung, den äußeren Menschen zu verneinen,
als auch die Feststellung, daß dieser in seinem ethischen
Streben eine positive Aufgabe auf dem Weg zur unio mystica
hat. Tauler vertritt somit weder einen ethischen Quietismus
noch eine grundsätzliche Abwertung oder Verneinung der
Schöpfung. Und auch die menschliche Arbeit erfährt bei ihm
eine überaus positive Wertung.

Kap. VI („Der Mensch und die Vernunft" ; S. 115-135) gibt
Wrede zunächst eine terminologische Bestimmung des „inneren
Menschen" und eine kurze Darstellung von Taulers
Seelenauffassung, um sich dann der Vernunft zuzuwenden.
Trotz starker Vorbehalte gegenüber der Vernunft, deren
Möglichkeit, zur Gotteserkenntnis zu gelangen, von Tauler
sehr eingeschränkt wird, ist sie für ihn „in ihrer ethischreligiösen
Funktion nicht nur eine nützliche, sondern vielmehr
eine notwendige Seelenkraft" (S. 129).

Weiter als die Vernunft es vermag, führen der Wille und
die Liebe den Menschen auf dem Weg zur unio mystica, wie
im Kap. VII („Der Mensch und der Wille - die Liebe" ; S. 136
bis 152) ausgeführt wird. Nach einer Bestimmung des Verhältnisses
Wille — Vernunft und einer Besprechung der Termini
„freier Wille" und „Eigenwille", „Einwilligung" und
..Willelosigkeit" geht Wrede auf den Einfluß der Augustini-
schen Telos-Lehre auf Taulers Anthropologie ein, der sich
darin zeigt, daß nach Tauler sich der Mensch in einer fortlaufenden
Willensentwicklung auf ein oberstes Ziel hin. das
Gute, befindet. Nach einer Bestimmung des Begriffes „Liebe"
und deren Verhältnis zur Vernunft und zum Willen wird die
Taulersche Auffassung mit der Augustins verglichen und
eine Reihe von Gemeinsamkeiten festgestellt. Im Unterschied
zu Augustin wird bei Tauler aber das ..ethisch-willensmäßige
Zielstreben" von der „kontemplativen Betrachtung
des Zieles" (S. 150) abgelöst. Um der vollkommenen
Liebe Gottes Platz zu machen, muß der Mensch von allen
oberen Seelenkräften, zuletzt auch von der Liebe, entblößt
werden. Doch hört er in der unio mystica nicht auf, ein geschaffenes
Wesen zu sein. Und wenn das, was alle menschliche
Erfahrung übertrifft, gedeutet werden soll, muß es „in
Termini der menschlichen Erfahrung gekleidet" (S. 152)
werden.

Dem „Grund" als dem „Fokus der Anthropologie Taulers"
wendet sich Wrede Kap. VIII („Der Mensch und der Grund" ;
S. 153—202) zu. Nach einer terminologischen Bestimmung
der Begriffe „Gemüt", „Grund" und „mens" wird Taulers
Auffassung vom Menschen als Ebenbild Gottes dargestellt