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Ausgabe:

1977

Spalte:

437-439

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Senior, Donald

Titel/Untertitel:

The passion narrative according to Matthew 1977

Rezensent:

Sellin, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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beit ausmachen) in irgendeiner Weise zu differenzieren. Im
Gegenteil: Die rabbinische Literatur „(zwingt) unausweichlich
dazu, einander widersprechende Ansichten nicht einfach
auf verschiedene Gruppen zu verteilen und sich dadurch des
in den .Widersprüchen' selbst liegenden Hinweises oder auch
Problems zu entschlagen, sondern die Gleichzeitigkeit (!) solcher
Ansichten als den unaufgebbaren Ausdruck der Sache
selbst, die Polaritäten als im Zentrum gehalten, die Variationen
als Gestalten des einen Themas zu begreifen" (S. 39).
Strukturen und Voraussetzungen, die allen rabbinischen
Aussagen zugrunde liegen, können nur bis zur Banalität allgemein
oder aber falsch sein und die verschiedenen Aussagen
schlicht vergewaltigen. Angesichts der Tatsache, daß
auch das rabbinische Judentum sich über einen Zeitraum
von ca. 500 Jahren erstreckt und sehr wohl verschiedene
Strömungen und Richtungen aufweist, ist der Zwang des
Autors zur Systematisierung und der Verzicht auf jede historisch
-soziologische Einordnung und auf die Beachtung der
Situationsgebundenheit der Texte eindeutig ein Rückschritt
in der Forschung.

2. Bedenken erheben sich schließlich auch gegen die Absicht
und Tendenz des Buches. N. hat nichts Geringeres im
Sinn als einen Religionsvergleich zwischen der jüdischen
und der christlichen Religion (vgl. S. 6, 11, 41 Anm.
176). Der ganze ungeheure Aufwand dient dem Nachweis,
daß ein Doppelgebot der Liebe wie im Neuen Testament
im Judentum undenkbar und unmöglich ist, wobei freilich
ein ganz besonderes Verständnis dieses neutestamentlichen
Doppelgebotes vorausgesetzt wird: das Doppelgebot der
Liebe als Summe und Abrogation der gesamten Tora. Dies
wird zwar nirgendwo direkt ausgesprochen, steht aber ständig
im Hintergrund und ist das apologetische Grundmotiv
der ganzen Arbeit. Ohne in eine Diskussion über das neu-
testamentliche Liebesgebot eintreten zu wollen, kann jedenfalls
so viel festgestellt werden, daß damit das Pferd vom
Schwanz her aufgezäumt wurde. Das, was bewiesen werden
soll, ist ständig als unbewiesene (und in einem solch starren
Religionsvergleich wohl auch unbeweisbare) Behauptung
vorausgesetzt. So fällt der in der überaus polemischen Auseinandersetzung
mit Berger (S. 229 Anm. 589) geäußerte
Vorwurf: „Eine Einzelauseinandersetzung mit ihm, soweit
sie überhaupt weiterführend sein kann, empfiehlt sich erst
bei Vorliegen des angekündigten 2. Teils des Bergerschen
Werkes" auf den Autor selbst zurück. Das Buch leidet an
einer unangemessenen, einseitigen und verzerrenden Fragestellung
, und der ominöse Schlußsatz am Ende des Hauptteils
S. 416 (s. o.) ist keineswegs ein einmaliges „Versehen"
des Vfs., das auch hätte unterbleiben können (vgl. E. L. Ehrlich
im Freiburger Rundbrief XXVI, 1974, S. 109 Anm. 1),
sondern im Gegenteil höchst konsequent und das Ende des
sich durch das ganze Buch hindurchziehenden roten Fadens.
Die Antwort auf die dort gestellte Frage kann nach allem
vorher Gesagten nur lauten: Mit dem Doppelgebot der
Liebe hat Jesus das Judentum verlassen!

Auf weitere Bemerkungen zu Einzelheiten kann verzichtet
werden. Nur noch ein gravierender Umstand sei erwähnt:
Der Vf. hat, soweit sich der Arbeit entnehmen läßt, von der
Sekundärliteratur zum Thema kein einziges neuhebräisches
Werk benutzt. Angesichts zahlreicher einschlägiger Aufsätze
und so grundlegender Arbeiten wie A. J. Heschel,
„Torah min ha-schamajim baaspäqlarjah schäl ha-dorot",
London-New York 1962—65 und vor allem E. E. Urbach,
,.ChZ"L. Pirqe ämunot wedeot, Jerusalem 1969 (eine englische
Ubersetzung liegt jetzt vor) ist dies nicht nur ein bedauerlicher
Mangel, sondern kaum entschuldbar.

Köln Peter Schäfer

Senior, Donald P., c. p.: The Passion Narrative According to
Matthew. A Redactional Study. Leuven: Leuven Univer-
sity Press; Gembloux: Duculot [1975]. VII ,343 S. gr. 8° =
Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium,
XXXIX. bfr. 550,-.

Das Buch entstand als Dissertation bei F. Neirynck an der
Theologischen Fakultät in Louvain (1972 eingereicht). Der
Hauptteil besteht aus einer minutiösen Vers-für-Vers-Analyse
der matthäischen Passionsgeschichte Mt 26,1—27,56
(9-334), wobei der Mt-Sondergut-Abschnitt 27,3—10 („The
Fate of the Betrayer") aus drucktechnischen Gründen (er
lag bereits gesondert vor in ETL 48, 1972, 372-426) als Anhang
erscheint (343—397). Eine kurze Einleitung informiert
über die leitenden Gesichtspunkte der Analyse (1—8), in
einem ebenfalls kurzen Schlußabschnitt gibt S. eine Zusammenfassung
(335—341). Dem Anhang folgen ein Abkürzungsverzeichnis
, eine ausführliche Bibliographie, Nachträge
und zwei Register. Innerhalb des Hauptteils befinden
sich noch zwei im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführte Exkurse
: zu den Begriffen mathetai (14—17) und kairos (57—62)
bei Mt.

In der Einleitung stellt S. zwei Leitfragen voran: 1. Die
matthäische Passionsgeschichte berührt sich besonders eng
mit der markinischen Vorlage: welches sind die speziellen
matthäischen Nuancen, S.s Exegese zeigt, daß die drei in
der Forschung angebotenen Theorien (apologetisch-polemische
Auseinandersetzung mit dem Judentum: Hummel,
Trilling; Gemeindeparänese: Strecker; Christologie: G. Barth)
sich nicht ausschließen. Doch ergibt sich ein Schwergewicht
zugunsten des christologischen Aspektes. — 2. Von größerem
Gewicht ist die literarkritische Frage: welches literarische
Verhältnis besteht zwischen Mt und Mk? Es ist das Hauptverdienst
dieser Arbeit, daß die Abweichungen von Mk überzeugend
als durchgehende matthäische Redaktion erklärt
werden können. Dabei vertritt S. in lobenswerter methodischer
Strenge den asketischen Standpunkt konsequenter redaktionsgeschichtlicher
Exegese, wie er in Leuven (F. Neirynck
) praktiziert wird, und steht damit auf solidem methodischem
Fundament in einer Zeit, wo neutestamentliche Forschung
wieder ins Stadium des Wagnisses hypothetischer
Rekonstruktionen von Quellen und Traditionen zu treten
scheint.

Zurückhaltung und Ausgewogenheit sind die methodischen
Kennzeichen des nun folgenden ausführlichen Kommentars
. Jede einzelne Abweichung vom Mk-Text wird genau
untersucht, so daß sich schließlich ein sehr differenziertes
Bild der matthäischen Redaktion ergibt. In den vielen
genauen Einzelbeobachtungen liegt hauptsächlich der Wert
dieser Arbeit. Besonders gelungen scheinen mir die Ausführungen
zum Synhedriumsverhör 26, 57—68 (157—191) und zur
Judas-Perikope 27, 3—10 (Anhang).

Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung sind nur
schwer auf knappem Raum vorzutragen. Dadurch, daß S.
sich nicht auf die Behandlung auffälliger Differenzen zu Mk
beschränkt, sondern auch die kleinen Abweichungen (stilistische
Verbesserungen, Vermeidung der häufigen markinischen
Redundanzen, stärkere Strukturierung der Erzählungszusammenhänge
usw.) behandelt, gewinnt er als Ausgangspunkt
für weiterreichende Thesen an stärker von Mk
differierenden Stellen (Mt-Sondergut) ein ziemlich genaues
Bild der matthäischen Redaktionstechnik. Das Resultat
ist überzeugend: Mk sei die einzige Quelle. Vor allem in
Auseinandersetzung mit Strecker (130 ff.; 370 ff.; 391 ff.) wird
jeder Einfluß von Sonderquellen und Sondertraditionen bestritten
. Auch die Sondergut-Partien (Mt 26. 52-54: 27, 3-10;
27, 19. 24 f.: 27, 51b-54) seien durch Mk als Vorlage inspiriert
und verdanken sich rein redaktioneller Tendenz: mit
Hilfe alttestamentlichen Materials, oft in Rückgriff auf sein
Redengut. baue Mt bestimmte im Mk-Text vorgegebene Anregungen
weiter aus (ein Musterbeispiel ist die Analyse der
Judas-Perikope 27, 3—10 im Anhang). Nur eine Ausnahme
vormatthäischer Sonderinformation muß S. zugestehen: die
Notiz vom „Blutacker" (27, 8; vgl. Apg 1, 19). Damit ist aber
noch nicht gesagt, daß hier der Text auf einer Sondertradition
oder gar Sonderquelle beruht. So ist denn auch S.s
Nachweis überzeugend, daß alle übrigen Elemente dieser
Perikope redaktionell sind und das Zitat 27,9 f. von Mt
selbst herangezogen und redaktionell abgewandelt wurde.