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Ausgabe:

1977

Spalte:

411-420

Autor/Hrsg.:

Weiß, Hans-Friedrich

Titel/Untertitel:

"Volk Gottes" und "Leib Christi" 1977

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 6

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und weitere Beschäftigung mit diesem bisher kaum bekannten
Text ermöglicht.

Diese Zeilen sind dem Hallenser Emeritus D. Erhard
Peschke gewidmet, einem Kenner des späten Mittelalters
und des Pietismus. Die hier am frühen Mittelalter aufgezeigten
Probleme sind auch ihm vertraut: Überlieferung
von Texten, fehlende oder unzureichende Textausgaben,
Aufnahme alter Texte in neue Zusammenhänge hinein. So
wird sich der Jubilar mitfreuen, daß auf dem Gebiet des
frühen Mittelalters jene Fortschritte erreicht werden, um
die er sich für seine Spezialgebiete ebenfalls erfolgreich bemühte
und weiter bemüht.

1 Mordeck, Hubert: Kirchenrecht und Reform im Frankenreich. Die
Collectio Vetus Gallica, die älteste systematische Kanonessammlung
des fränkischen Gallien. Studien und Edition. Berlin: de Gruy-
ter 1975. XXXV, 713 S., 10 Taf. gr. 8° ■» Beiträge zur Geschichte und
Quellenkunde des Mittelalters, hrsg. v. H. Fuhrmann, 1. Lw. DM
356,-.

' Fuhrmann, Horst: Einfluß und Verbreitung der pseudeisldorl-
schen Fälschungen. Von Ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit,
I-III, Stuttgart: Hiersemann 1972/73/74. LV, VIII, VI, 1127 S. gr. 8° =
Schriften der Monumenta Germaniae historica. Deutsches Institut für
Erforschung des Mittelalters, 24, I—III. Lw. DM 318,-.

« Lotter, Friedrich: Der Brief des Priesters Gerhard an den Erz-
bischof Friedrich von Mainz. Ein kanonistisches Gutachten aus früh-
ottonischer Zeit. Sigmaringen: Thorbecke [1975]. 146 S. 8° «■ Vorträge
und Forschungen, hrsg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche
Geschichte, Sonderbd. 17. DM 38,-.

„Volk Gottes" und „Leib Christi"

Überlegungen zur paulinischen Ekklesiologie
Von Hans-Friedrich Weiß, Rostock

Konrad Weiß zum 70. Geburtstag

I

„Paulus bewegt sich in seinen Briefen dialoghaft und
bleibt in seinen Antworten fragmenthaft, weil er konkrete
Fragen konkret beantwortet." Dieser Satz, den G. Eichholz
seiner Darstellung der „Theologie des Paulus im Umriß"
vorangestellt hat1, gilt auch im Blick auf das Thema der
paulinischen Ekklesiologie. Eine „Lehre von der Kirche"
wird in den Briefen des Paulus nicht entfaltet, und nur gelegentlich
, sofern es die Stellungnahme zu aktuellen Gemeindeproblemen
erfordert, kommt Paulus auf dieses Thema
zu sprechen. Schon von daher gesehen entzieht sich die
paulinische Ekklesiologie jedem Versuch einer strengen
Systematisierung und erweckt darüber hinaus — indem
Paulus offensichtlich ursprünglich unterschiedliche Traditionen
aufnimmt, ohne diese Traditionen in jedem Falle
aufeinander zu beziehen oder miteinander auszugleichen —
den Eindruck einer gewissen Mehrdeutigkeit. Gleichwohl
ist offenkundig, daß das Thema der Kirche bei Paulus keineswegs
nur am Rande seiner theologischen Reflexion
steht, daß vielmehr in der Stellungnahme zu diesem Thema
das Ganze der paulinischen Theologie in Erscheinung tritt
und die Äußerungen des Paulus zum Thema der Kirche
paradigmatische Bedeutung für bestimmte Grundstrukturen
seines theologischen Denkens haben. In besonderer
Weise gilt dies — wie bereits die Formulierung des Themas
andeutet — im Blick auf das Verhältnis von Christologie
und „Heilsgeschichte" im theologischen Denken des Paulus
, wie z. B. durch E. Käsemanns Überlegungen zum Thema
„Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief"2
ebenso bestätigt wird wie auch durch den eigenartigen
Sachverhalt, daß G. Eichholz in seiner Darstellung der paulinischen
Theologie auf das Thema der Ekklesiologie nur
im Zusammenhang einer Analyse von Rom 9—11 unter der
Uberschrift „Kirche und Israel" zu sprechen kommt3.

Das Grundproblem, um das es in diesem Zusammenhang
geht, wird durch solch unterschiedliche Stellungnahmen
wie die von A. Oepke einerseits und E. Käsemann andererseits
bezeichnet: A. Oepke hat im 79. Jahrgang dieser Zeitschrift
(1954) unser Thema unter der Überschrift „Leib
Christi oder Volk Gottes bei Paulus" schon einmal erörtert
und ist dabei zu dem folgenden Ergebnis gekommen: „Die
beiden im Thema stehenden Begriffe bilden im Sinn des
Paulus keine Alternative, sondern sie stehen im Verhältnis
der Synthese, so aber, daß der Gottesvolkgedanke Wurzel
und Stamm, die Leib-Christi-Idee aber die Krone bildet.
Also nicht: Volk Gottes oder Leib Christi, sondern: Volk
Gottes und Leib Christi"4. Das im eigentlichen Sinne
grundlegende in der Ekklesiologie des Paulus ist demnach
für A. Oepke der „Volkgedanke", der ..Leibgedanke"
demgegenüber „das aus anderen Komponenten Zuwachsende
"5. Das Problem der paulinischen Ekklesiologie wird

also gelöst im Sinne der Zuordnung der Christologie zur
„Heilsgeschichte". Geht man nun freilich von dem christo-
logischen Ansatz des theologischen Denkens des Paulus
aus, wie ihn zuletzt G. Eichholz eindrücklich herausgearbeitet
hat6, so erscheint es naheliegend, die Reihenfolge
„Volk Gottes" und „Leib Christi" eher umzukehren, und
zwar im Sinne der theologischen Prävalenz der Christologie
vor der „Heilsgeschichte". So jedenfalls sieht offensichtlich
E. Käsemann die Dinge, wenn er — in ausdrücklicher Bestreitung
auch der Position von A. Oepke — im Zusammenhang
seiner Analyse des „Motivs vom Leibe Christi" schließlich
zu dem Ergebnis kommt: „Heilsgeschichtliche Interessen
und Polemik lassen den Apostel am Leitbild judenchristlicher
Ekklesiologie festhalten, obgleich das seiner
Theologie und seinem Werk nicht mehr zutiefst entspricht"7.
Solche offenkundige Divergenz der Auffassungen zum Thema
der paulinischen Ekklesiologie läßt es als gerechtfertigt
erscheinen, die Fragestellung an dieser Stelle noch einmal
aufzunehmen.

II

Angesichts dessen, daß Paulus weithin als der erste Repräsentant
eines christologischen Verständnisses der Kirche
in der Theologiegeschichte des Urchristentums gilt, ist es
auffällig, daß sich bei ihm zwei Aussagereihen zum Thema
der Ekklesiologie feststellen lassen: einmal eine christolo-
gische Aussagenreihe in Gestalt der Vorstellung vom „Leib
Christi", die weithin als die originale Schöpfung des Paulus
selbst gilt, und zum anderen eine „heilsgeschichtlich-
eschatologische" Aussaeenreihe. mit der der Apostel ganz
offensichtlich seinerseits in einer judenchristlichen Tradition
steht. Auffällig ist weiter, daß die letztgenannte Aussagenreihe
in den Briefen des Paulus einen weit größeren
Raum einnimmt als die christologische Aussagenreihe. So
scheint also bereits die Statistik für die Auffassung von
A. Oepke zu sprechen, wonach die „heilsgeschichtlich-
eschatologische" Linie in Gestalt des „Gottesvolkgedankens"
das eigentliche Fundament der paulinischen Ekklesiologie
ausmacht, die christologische Linie demgegenüber nur
„Aufbau, Stockwerk" auf diesem Fundament9. In der Tat
liegen ja die Dinge bei Paulus so, daß von der Kirche als
„Leib Christi", also von einem ausgesprochen christologischen
Verständnis der Kirche, im Grunde nur in 1 Kor 12,
12—27 sowie in der Parallelstelle Rom 12, 4 f. die Rede ist».
Unverhältnismäßig häufiger demgegenüber spricht Paulus
von der Kirche in einer Begrifflichkeit, die ihren Ursprung
ganz eindeutig in einer spezifisch judenchristlichen Ekklesiologie
hat und die das Selbstverständnis der christlichen
Gemeinde als das „wahre Gottesvolk" der Endzeit voraussetzt
, in diesem Sinne also in der Tat ein „heüsgeschicht-
lich-eschatologisches" Verständnis der Kirche.

Eindeutig in einer jüdischen bzw. judenchristlichen Tra-