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Ausgabe:

1977

Spalte:

397-400

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Petzoldt, Martin

Titel/Untertitel:

Die Gleichnisse Jesu in ihrer Bedeutung für die Dogmatik 1977

Rezensent:

Petzoldt, Martin

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397

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 5

398

Petzoldt, Martin: Die Gleichnisse Jesu in ihrer Bedeutung für
die Dogmatik. Diss. Leipzig 1976. VI, 386 S.

Die vorliegende Arbeit geht von der Überzeugung aus, daß
dogmatisches Nachdenken aus dem unmittelbaren Gespräch mit
biblischen Texten hervorgeht. Traditionellerweise geschieht das
in starkem Mafje im Zusammenhang mit paulinischen Texten
und Begriffen. Ohne dieses Vorgehen disqualifizieren zu
wollen - die Arbeit orientiert sich dann ohnehin an der reformatorischen
Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die
vor allem bei Paulus angebunden ist -, liegt der Ansatz in der
Einsicht, daß die Anfänge dogmatischen Verstehens bei den
Bedingungen für dieses Verstehen liegen. Dazu werden
biblische Texte benötigt, die ihrem Selbstverständnis nach nicht
dogmatische, sondern die Bedingungen für theologisches Verstehen
aufdeckende Texte sind. Die Textgruppe »Gleichnisse
Jesu' erfüllt diese und weitere Anforderungen, da sie die umfänglichsten
Stücke der Predigt des vorösterlichen Jesus sind,
deren ursprüngliche Intention mit dem textkritischen und
hermeneutischen Instrumentarium am ehesten erfaßbar ist.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, deren erster die Einleitung
(1-7) und deren letzter Bemerkungen zum Schluß
(350-358) bieten. Teil 2 „Der Zusammenhang von biblischen
Texten und Dogmatik" (8-93) bringt sowohl den Verfasser vergewissernde
sachliche Passagen wie theologiegeschichtliche
Einsichten und Entwicklungen, die zur Bearbeitung eines
solchen Themas nötig sind. Teil 3 „Der Zusammenhang von
Interpretation und Dogmatik" (94-261) ist einmal dem Interpretationsbegriff
und zum andern der Darstellung von 13 ausgewählten
Gleichnissen gewidmet. In Gleichnissen geht es der
Sache nach um Interpretation: Jesus interpretiert in seiner
Gleichnispredigt Gott auf dem Hintergrund seiner Interpretation
des Menschen. Beide Interpretationen stehen in einem
antithetisch strukturierten Verhältnis zueinander. Der Zweck
der Gleichnisse ist vom Erzähler her zu bestimmen: Jesus versucht
mit Hilfe von Gleichnissen seine Interpretation Gottes
und seine Interpretation des Menschen zu vermitteln. Der
Interpretationsbegriff erfüllt dabei zwei miteinander zusammenhängende
Aufgaben: er ist einmal als auslegungsmethodische
Kategorie gebraucht, und er zeigt zum anderen
die Veränderung bzw. Erneuerung an, die das NT mit dem
Begriff ,Evangelium' meint. Die Unterscheidung von Gesetz
und Evangelium ist in diesem Zusammenhang als Mittel der
Entschlüsselung für Gleichnisse eingesetzt, allerdings in einer
aktualisierten und erweiterten Form (Annahme-Infragestellung-
Erneuerung), die sich auf einen Vorschlag von E.-H. Amberg
beruft. Durch die Arbeit an den Gleichnissen ergab sich eine
Schematisierung dieser Trias (Tradition-Situation-Interpretation
) : In Jesu Gleichnispredigt werden Menschen in ihren
Traditionen an- und ernstgenommen; Jesu Anwesenheit bei
seinen Hörern (Situation) bringt den Anspruch Gottes (Gesetz)
als Infragestellung des Menschen zur Sprache; Interpretation
wirkt sich als Erneuerung des Menschen durch Gott (Evangelium
) aus, d. h. als Eröffnung und neuer Beginn der Zuordnung
von Gott und Mensch. Der dogmatisch integrierte Interpretationsbegriff
und die antithetische Struktur der Gleichnisse sind
sowohl für sich wie auch in ihrer gegenseitigen Bedingung und
Durchdringung wesentliche Grundlagenelemente der Arbeit mit
Gleichnissen im Vollzug des dogmatischen Nachdenkens.

Folgende Gleichnisse dienten als Material: Mk 12, 1-12;
Mt 18, 23-35; Mt 20, 1-16; Mt 22, 1-14; Mt 25, 1-13; Mt 25,
14-30; Mt 25, 31-46; Lk 10, 25-37; Lk 12, 13-21; Lk 15, 11-32;

16, 1-9; Lk 18, 1-8; Lk 18, 9-14. Neben den vorhandenen
synoptischen Parallelen wurden auch die vorliegenden Versionen
des Thomasevangeliums herangezogen.

Auf dem Teil 4 „Der Zusammenhang von Gleichnissen und
Dogmatik" (262-349) liegt das Schwergewicht. Hier werden,
gewissermaßen als „außertheoretische Elemente", Entdeckungen
markiert, die dann im letzten größeren Abschnitt („Begründungen
") einer Reihe von Näherbestimmungen zugeführt werden
. Vorerst ist aber der Zusammenhang von Tradition-
Situation-Interpretation näher zu bestimmen. Dabei ergibt sich,
daß die Gleichnisse ein relativ einfaches Verständnis von Geschichte
voraussetzen (ein kompliziertes würde der Intention
von Gleichnissen zuwiderlaufen). Es sind im wesentlichen zwei
verschieden strukturierte Dimensionen, kausale bzw. korrelative
und paradoxe Bewegungen, die für die Komplexität von
Geschichte überhaupt stehen: 1. Annahme (Tradition) läßt sich
als Legalisierung des Menschseins und Infragestellung
(Situation) läßt sich als Radikalisierung der entdeckten Annahme
näherbestimmen. Der Schritt von Annahme zu Infragestellung
ist ein kausaler (bzw. korrelativer), insofern vom
Erzähler im Licht jetzt erfahrener Situation die Vergangenheit
(intcntional oder verbal) korrelativ zugeordnet und damit aufgedeckt
wird. 2. Die Erneuerung beginnt als unerwartete Eröffnung
von Veränderung (Interpretation) inmitten von unveränderbar
erscheinender Alltäglichkeit (Situation) und realisiert
sich als das Aushalten beim Infragegestellten - Paradoxie ist
der erstaunte Blick von einer »Wirkung' zurück auf eine
inadäquate ,Ursache'; Paradoxie erschließt sich ohne Zutun von
der Zukunft her als Erneuerung.

Diese Überlegungen sind nun durch personale Bezüge zu
konkretisieren. Dabei geht es um theo-logische, anthropologische
, christologische und ekklesiologische Näherbestimmung:

1. Am Anfang steht das Plädoyer für eine eigenständige
theologische Anthropologie innerhalb und als Zugang
zur speziellen Dogmatik. In Gleichnissen wird vordergründig
(gewissermaßen aus hermeneutischen Gründen) nur vom
Menschen geredet. Der Ansatz einer solchen A. liegt in der
doppelten Ermöglichung des Menschen in seinem Menschsein
(durch Gott und durch den Mitmenschen). Die Beschreibung
des Menschen als Partner, Angeklagter und Befreiter Gottes
deutet in Anlehnung an das Schema von Annahme-Infragestellung
-Erneuerung die Durchführung der A. an.

2. Der theologischen A. antithetisch zugeordnet ist die
Gotteslehre. Die Berechtigung zu dieser Verhältnisbestimmung
ist von der antithetisch strukturierten Zuordnung der
Interpretation des Menschen und Gottes in Jesu Gleichnissen abgeleitet
. Jesus will aber deutlich machen, daß Gott den Menschen
begegnen will, nicht als von Menschen Geplanter, Vorgestellter,
Typisierter oder Projizierter, sondern als Erfahrbarer, als
Richtender und als Liebender. Weder eine anthropologisch
noch eine christologisch motivierte Gotteslehre kommt in Betracht
. In der theologischen Entwicklung der Gegenwart ist es
zu beiden Extrementwicklungen gekommen, was wohl z. T.
am Fehlen einer theologischen Anthropologie sowie an der
mangelnden Verhältnisbestimmung von Anthropologie, Gotteslehre
und Christologie gelegen haben mag. Jesu Interpretation
Gottes läßt sich nicht mit einer oder mit mehreren Figuren
seiner Gleichnisse einfach verknüpfen, sondern sie ist aus den
Bewegungen erhebbar, die den Gleichnisablauf bestimmen.
Jesus meint den Gott, der als Gott erfahren werden will,
d. h. als der ganz Andere, der immer Andere, der Veränderte,
der Wandelbare. Gott geht mit den Menschen mit, aber er entzieht
sich ihnen gleichermaßen, oder anders: Gott begegnet
Menschen immer dann, wenn sie ihn am wenigsten erwarten.

3. Erst auf dem antithetisch strukturierten Hintergrund von
Anthropologie und Gotteslehre wird Christologie möglich
und sinnvoll. Christologie von dem Gleichnisse predigenden
Jesus her zu entwerfen, führt zu der Erkenntnis der
christologischen Bedeutsamkeit des predigenden Jesus. Jesus
will mit seiner Gleichnispredigt seine Interpretation des Menschen
und seine Interpretation Gottes vermitteln, versöhnen;
er will Heil sagbar machen. Das Verhältnis des predigenden
zum gekreuzigten und auferweckten Jesus Christus zeigt an,
daß Wirklichkeit mehr ist als Sprache: sagbar gewordenes Heil
bedarf der Ergänzung. Wir reden vom sichtbar gewordenen
Heil (vgl. das opthe von 1 Kor 15, 5 ff). Jesus erfüllt in seiner
Predigt auf sagbare und in seiner Auferweckung auf ganz-
heitlichc (sichtbare) Weise die Funktionen eines Botschafters,
eines Anwalts und eines Versöhners. Dem Kreuz kommt dann
eine zentrale christologische Stellung zu, insofern es die
unerwartete, verwandelte Position Gottes und die totale Negation
des Menschen markiert. Es hält Predigt und Auferweckung
in eigentümlicher Weise zusammen: Die Predigt Jesu muß auf
das Kreuz hin wie Ostern vom Kreuz her gedacht werden. Das