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Ausgabe:

1977

Spalte:

386-390

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Söhngen, Oskar

Titel/Untertitel:

Erneuerte Kirchenmusik 1977

Rezensent:

Schmidt, Eberhard

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 5

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Es kann nur davor gewarnt werden, die Ergebnisse der
umfangreichen Umfragen, wie sie in den letzten Jahren unter
Katholiken und Protestanten in der BRD durchgeführt wurden
(Schmidtchen 1972 und 1973, Hild 1974), vorschnell zu verallgemeinern
; zu deutlich tragen diese Unternehmungen (und
erst recht die sich abzeichnenden Interpretationstendenzen)
den Stempel der besonderen gesellschaftlichen Situation, unter
der sie zustande kamen. E i n Ergebnis freilich darf wohl ein
gewisses Maß an Allgemeingültigkeit beanspruchen: Die Probleme
, die sich mit dem zahlenmäßigen Rückgang der Gottesdienstbesucher
verbinden, sind kaum „innerliturgisch" lösbar.
Das heißt: Die Chancen, über eine verbesserte Gestaltung des
Gottesdienstes selber (was immer auch man darunter verstehen
mag) diesem Rückgang entgegenzuwirken, sind gering;
ebenso bescheiden scheinen die Aussichten zu sein, über eine
„erneuerte Liturgie" etwa auf die Einstellungen und das Verhalten
der Kirchenmitglieder einwirken zu können. Der Grund:
„Liturgische Reformen sind ein unzureichendes Instrumentarium
, um das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft zu
ändern" (Schmidtchen 1973); Wertkonflikte, die sich auf diesem
Feld ergeben, können mit liturgischen Mitteln allein nur
unzureichend angegangen werden.

Der Vf. weiß und zitiert dies alles; trotzdem hat er die
Hoffnung - und ohne diese Hoffnung hätte er das vorliegende
Buch gewiß nicht geschrieben -, „daß sich im Zusammenhang
mit der Liturgiereform, also vom sakramental-liturgischen Geschehen
her, ein umfassender Reformprozeß des Glaubens und
der Lebensorientierung aus dem Glauben einleiten und durchhalten
läßt" (18). Freilich: Das gilt für den katholischen Raum,
wo die Liturgiereform sowieso schon von Anfang an „in eine
globale, vom Zweiten Vatikanischen Konzil eingeleitete theolo-
gisch-pastorale Reform" eingebettet war; und das gilt auch
nur dann, wenn diese Reform selber durch die Einbeziehung
der „Basis" eine neue Qualität erhält. Sollen von einer
erneuerten Liturgie Wirkungen (im Sinne einer auch gesellschaftlich
relevanten Lebensorientierung) ausgehen, kann diese
nicht „von oben" auf dem Rechtswege verordnet werden;
erforderlich ist ein „Lernprozeß", an dem die ganze Gemeinde
beteiligt wird, und der in einer doppelten Richtung verläuft:
Einmal in Form einer „breit angelegten Bildungsarbeit in der
Gemeinde" selber, dann aber auch - und das scheint dem Vf.
fast noch wichtiger zu sein - als ein Umlernen auf Seiten der
Amtskirche, die bei ihren liturgischen Aktivitäten stärker die
Erwartungen, Vorstellungen und Probleme der Gemeindeglieder
berücksichtigen muß (75). Ein „offener Erfahrungsaustausch
" ist notwendig, der die verantwortliche Mitarbeit
der Gemeindeglieder an der Gottesdienstgestaltung einschließt
.

Wer einen Lernprozeß in Gang setzen will, muß sich zunächst
über die Lernziele Klarheit verschaffen. Woraufhin soll gearbeitet
werden? Der Vf. gibt eine detaillierte Antwort, die
zugleich konkrete Handlungsanweisungen für die liturgische
Arbeit enthält: Ziel ist eine ausgewogene, situationsentsprechende
Gottesdienstgestaltung, die den vier - vom Vf. so genannten
- „Erfahrungsbereichen liturgischen Erlebens"
(„Dimensionen der Liturgie") gerecht wird. Fällt auch nur
einer der vier Bereiche aus bzw. wird er vernachlässigt, muß
es zu Störungen kommen; umgekehrt ist eine liturgische Feier
nur dann wirklich „gut" (31), wenn sie dem Teilnehmer
positive Erfahrungen in allen vier Bereichen vermittelt. Vielleicht
liegt hier die eigentliche Leistung des Buches: Die hand-
lungsorientierte, praxisbezogene Entfaltung der genannten
Erfahrungsbereiche liefert demjenigen, der am „Lernprozeß
Gottesdienst" teilnimmt, einmal ein brauchbares Instrumentarium
zur Operationalisierung der Ziele liturgischer Arbeit
(vom Vf. unter dem Stichwort „Handlungskriterien" jedem
Bereich einzeln zugeordnet); sie liefert ihm damit aber auch
Maßstäbe für die Überprüfung der Lernergebnisse - sprich:
für eine möglichst objektive, nicht nur von Laune und Geschmack
diktierte Beurteilung von Gottesdiensten (mit Hilfe
eines Fragebogens „zur Beobachtung und Beurteilung des Gemeindegottesdienstes
" will der Vf. sogar Zensuren errechnen,
99-112).

Die vier genannten Erfahrungsbereiche sind: 1. „Die personal
-informative Dimension" (Liturgie als „lebenserhellende,
existenzbefreiende Bildung und Formung", als „Informationsprozeß
" mit dem Ziel der „Selbstfindung und Selbstverwirklichung
des Menschen in der Nachfolge Christi", 34ff.); 2. „Die
kommunikativ-ekklesiale Dimension" (Liturgie als Gemeinschaftshandlung
mit dem Ziel sozialer Integration, 40 ff.);
3. „Die meditativ-mystische Dimension" (Liturgie als Spielraum
für „ehrfürchtiges Schweigen, gesammelte Stille, meditatives
Verweilen" in der Gegenwart Christi, 48 ff.); 4. „Die
eschatologisch-festliche Dimension" (Liturgie als „Schonraum
einer zweckfreien und von äußeren Zwängen und Leistungsanforderungen
entlasteten Atmosphäre", in der der Mensch - in
Freude, Erschütterung, Befreiung, Erhebung und Ekstase -
„das verheißene Heil der Zukunft zeichenhaft vorwegnehmen"
darf, 53 ff.). Drei weitere Dimensionen, die der Vf. außerdem
noch beschreibt (die „geschichtlich-interpretative", „symbolischdefinitive
" und „autoritativ-normative Dimension"), scheinen
für ihn nicht das gleiche Gewicht zu besitzen wie die vorgenannten
vier Erfahrungsbereiche.

Wichtig ist nun, daß jedem der genannten Bereiche auf Seiten
der Gemeindemitglieder bestimmte Erwartungen entsprechen,
denen sich die liturgische Arbeit stellen muß. Diese Erwartungen
sind deutlich nach Lebensaltern differenziert (die Erwartungen
jüngerer Menschen richten sich vornehmlich auf Bereich
1 und 2, während bei älteren Teilnehmern Bereich 3
akzentuiert wird; oder anders: Die Erwartungen jüngerer
Menschen sind stärker erlebnisorientiert, während die älteren
Jahrgänge mehr nach Bestätigung, Versicherung, „Erquickung"
auch im Gottesdienst suchen). Will man in der didaktischen
Terminologie bleiben, müßte man sagen: Der Vf. begründet
die Ziele für den „Lernprozeß Gottesdienst" nicht nur theologisch
, sondern auch und vor allem von den „Lernbedürfnissen"
der Teilnehmer her. Damit verbindet sich der Versuch, einen
anthropologischen Zugang zur Wirklichkeit des Gottesdienstes
zu finden und diese Wirklichkeit als „Erfahrungsraum des
Menschen" (Sakramente und Liturgie als „institutionalisierte
Erfahrungs- und Erlebnisvermittler") zu definieren, in dem
der einzelne und die Gemeinschaft „Erfahrungen erlösten
Daseins" machen und eine neue Welt- und Lebensorientierung
„einüben" können (22 ff.).

Hilfreich ist der zweite Teil des Buches, in dem der Vf.
„Anregungen und Modelle für die Praxis" gibt (75 ff.); wie
man die Meinung der Gemeinde zu liturgischen Fragen (unter
Berücksichtigung der vier „Erfahrungsbereiche") erkundet,
wie man sie zu eigenen Stellungnahmen veranlaßt, wie man
mit Gruppen an der Gestaltung von Gottesdiensten arbeitet
- all das wird hier beschrieben und durch zahlreiche Diagramme
, Frage- und Arbeitsbögen veranschaulicht.

Leipzig Karl-Heinrich Bieritz

Söhngen, Oskar: Erneuerte Kirchenmusik. Eine Streitschrift.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1975]. 91 S. gr. 8°
= Veröffentlichungen der Evang. Gesellschaft für Liturgieforschung
, hrsg. v. O. Söhngen, 19. DM 16,80.

Seit über 40 Jahren begleitet der 70jährige Autor den Weg
der Kirchenmusik mit den Augen des Theologen und des
Musikwissenschaftlers bald kommentierend, bald sichtend und
scheidend, bald anregend und provozierend. Hier seien einige
wichtige Daten genannt: 1932 erschien sein erster Beitrag:
„Kirche und zeitgenössische Kirchenmusik" in der damals
jungen Zeitschrift „Musik und Kirche"; 1937 organisierte er
das Fest der deutschen Kirchenmusik in Berlin als eine Stärkung
der durch den Kirchenkampf hart angefochtenen jungen
kirchenmusikalischen Bewegung; 1953 gab er in seiner Schrift
„Die Wiedergeburt der Kirchenmusik, Wandlungen und Entscheidungen
" eine theologische Deutung zum Phänomen der
zahlreich komponierten neuen kirchenmusikalischen Kompositionen
; für das bei Stauda in Kassel erschienene Handbuch des
evang. Gottesdienstes „Leiturgia" trug er in Bd. IV 1961 den