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Ausgabe:

1977

Spalte:

384-386

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Ruppert, Rudolf

Titel/Untertitel:

Lebendige Liturgie, ein Lernprozeß der ganzen Gemeinde 1977

Rezensent:

Bieritz, Karl-Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 5

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ner Mittel, die man summarisch als Vergegenwärtigung bezeichnen
kann, die aber unterschiedlich strukturiert sind.

Eine Art der Vergegenwärtigung besteht in dem Nacherzählen
eines in der Bibel berichteten Ereignisses, das darauf abzielt
, das Bewußtsein der zeitlichen und räumlichen Distanz
abzubauen. Der biblische Bericht soll zu einem Bewußtseinsinhalt
werden, der nicht nur gedächtnismäßig reproduzierbar
ist, sondern der auch in der Motivierung des Handelns unmittelbar
wirksam wird. Besonders deutlich ist das in einer
Predigt über die Bekehrung des Saulus. Die Übergänge vom
Erzählungsinhalt zur Situation der Hörer sind unmittelbar,
z. B. S. 17, 25 f.: „Das ist das andere, was uns heute, die wir
diese Geschichte hören, brennend not tut." Der Predigtschluß
(S. 18, 15) ist ebenfalls auf eine Vergegenwärtigung dieser Art
abgestimmt. Nachdem die abschließenden Sätze der Bekehrungsgeschichte
fast wörtlich aus dem Predigttext wiederholt
wurden, folgt der unmittelbare Übergang zur Situation der
Gemeinde in dem Schlußsatz: „Wir können große Dinge von
Gott erwarten." An einer anderen Stelle (S. 13, 7-14, 2) wird
die Botschaft des Textes so gezielt auf unsere Zeit bezogen,
daß der Brückenschlag nicht mehr gleichlaufend mit dem vor
fünfzig Jahren ist: „Immerhin sollten wir die Geschichte heute
anders hören können, als sie vor fünfzig Jahren von unseren
Eltern und Großeltern gehört wurde". In einem anderen Zusammenhang
(Predigt über die Emmausjünger S. 34, 34 ff.)
zeichnet W. die Situation, in der sich die Jünger befanden, in
einer Weise, daß die Hörer in einer identischen Situation angesprochen
werden: „Ich möchte grade denen unter Ihnen,
meine Hörerinnen und Hörer, denen es schwer wird, der Botschaft
von der Auferstehung Jesu einfach und ohne Hemmungen
zu glauben, dies sagen: ...".

Für W. ist die Vergegenwärtigung keine Einbahnstraße vom
Text zum Hörer. Zutreffend weist der Herausgeber im Vorwort
(S. 10) auf einen zweiten Aspekt, auf eine zweite Art hin. Der
erzählende Inhalt des Predigttextes wird als Modell für ein
Geschehen gesehen, das sich hier und heute ereignet: „Diese
Geschichte vom Fischzug des Petrus ist uns überliefert, um uns
zu sagen, wie damals in der einen, besonderen Begegnung
zwischen Jesus und Simon in starken Zügen entgegentrat, was
da geschieht, wo ein Mensch unmittelbar der majestätischen
Wirklichkeit Gottes begegnet" (S. 40, 9-12). Durch die bewußt
angestrebte Nivellierung des zeitlichen und räumlichen Ab-
standes wird das anders geartete biblische Geschehen als
Deutungsmöglichkeit gegenwärtiger Ereignisse bereitgestellt.
Besonders deutlich ist das in der Predigt über einen wenig
beachteten biblischen Bericht von der Steinigung eines jungen
Propheten (2 Chron 24, 18-22). Der christologische Bezug ist
zwar stark ausgezogen, und im Wortlaut der Predigt ist keine
Gleichsctzung des biblischen Geschehens mit aktuellen Ereignissen
aus unserer Umwelt gegeben. Lediglich in einer
Parallelisierung von Aussagen werden das biblische Geschehen
und die Erlebniswelt der Hörer verknüpft: „Wunderbar zeigt
uns hier unser Bericht, was die Gabe des Geistes, was Begeisterung
, was Hingabe an den Geist vermag" (S. 73, 20 f.).
Und doch wird die Rolle des gesteinigten jungen Propheten
unterschwellig für eine Übernahme durch die Hörer bereitgestellt
. Daß die häufige Parallelisierung unserer Situation mit
den Gegebenheiten der Predigttexte zu einer Nivellierung der
Eigenart des biblischen Geschehens führen kann, sieht W. als
Möglichkeit und Gefahr und versucht gelegentlich, einer zu
kurzschlüssigen Gleichsetzung vorzubeugen, z. B. S. 40, 6 f.:
„Das ist in gar keiner Weise uns zum Vorbild geschrieben."
Solche Überlegungen und die Interpretation des gegenwärtigen
Geschehens durch Textaussagen sind Mittel der Vergegenwärtigung
, doch werden zuweilen auch Bewußtseinsinhalte angesprochen
, deren Aktualisierung nicht in der Predigtabsicht
liegt. Wenn nämlich der Vorgang der Vergegenwärtigung
erfolgreich ausgelöst ist, vollzieht er sich in einer umfassenden
Realität und nicht nur in den Verbindungslinien zwischen Text
und Gegenwart, die in der Verkündigung zur Geltung gebracht
werden sollen. Eigene Kommunikationsimpulse gehen nämlich
vom Wortlaut der Predigt aus, und die Eigenständigkeit solcher
Impulse scheint dem Vf. nicht voll bewußt zu sein. In einer

Predigt über die Bekehrung des Saulus wird die Gemeinde in
folgender Weise angeredet: „Liebe Gemeinde! Hört das, denkt
darüber nach, nehmt das mit nach draußen: zu Saulus, der
nachher der große Missionar wurde, ist kein Missionar gekommen
; ihn hat keinerlei Veranstaltung und keinerlei Aktivität
der Kirche erreicht" (S. 16, 40-44). Sicherlich lag eine Aussage
gegen Veranstaltungen und Aktivitäten der Kirche nicht so in
der Verkündigungsabsicht, wie sie aus dem Wortlaut herausgehört
werden kann. Ähnliche Diskrepanzen treten öfter in
den Predigten aus den Jahren 1964 bis 1971 auf, deren Thematik
mehr durch zeitgemäße Probleme als durch den Ablauf des
Kirchenjahres bestimmt ist. Aktuelle Situationen werden angesprochen
, es sollen zwar biblische Aussagen vergegenwärtigt
werden, doch führt die Beschreibung unserer Situation nicht
immer zum Predigttext hin, z.B. S. 122, 9-29: „Wir sind ja
alle überaus kritische Hörer; und was wäre das für ein Gottesdienst
, an dem wir nichts auszusetzen hätten; den gibt es ja
gar nicht. Aber am Segen kann keiner etwas falsch machen, an
dem ist nichts zu kritisieren. .. Wenn er aber wirklich nur so
ein rituelles Überbleibsel wäre, warum ist die Handlung des
gottesdienstlichen Segens und das, worauf die Handlung weist,
der Segen Gottes, von dem die Bibel spricht, niemals angegriffen
worden?"

W. ist auch noch um andere Nuancen der Vergegenwärtigung
bemüht. Besonders in den Predigten, die biblische Begriffe
zum Thema haben, tragen meditierende Erörterungen dazu
bei, daß die im Text erwähnten Begriffe eigene Erlebnisinhaltc
aktualisieren. An einer Stelle (S. 51, 26-39) wird sogar eine
Zahl, nämlich das Alter von 130 Jahren, so kommentiert, daß
eigene Erlebnisse der Hörer ins Blickfeld treten. An einer
anderen Stelle (S. 113-117), nämlich in einer Himmelfahrtspredigt
, arbeitet W. das Abschiedserlebnis so stark heraus, daß
der emotionale Gehalt der Abschiedssituation die Brücke vom
Text zum Hörer bildet, obwohl dieser Aspekt nicht das
Proprium des Predigttextes ausmachte.

Wenn auch die konsequent angestrebte und gewollte Vergegenwärtigung
zuweilen dazu führen kann, daß die Eigenart
der biblischen Botschaft nivelliert wird, so ist sie dennoch ein
hervorragendes homiletisches Mittel, um die biblischen Aussagen
in lebensnahe Ausdrucksformen zu übertragen. W. hat
einschlägige homiletische Möglichkeiten durchreflektiert und
legt in einer Anzahl von Belegen eine Fülle von Nuancen vor,
die alle unter den Begriff der Vergegenwärtigung fallen. Für
die theoretische Homiletik bringen Strukturanalysen verschiedener
Möglichkeiten von Vergegenwärtigung Gewinn, und
der Verlag empfiehlt den Band mit Recht als Quellen- und
Arbeitsbuch für homiletische Übungen. Die chronologische Anordnung
der Predigten, die in einem Zeitraum von siebzehn
Jahren gehalten wurden, verdeutlicht eine Entwicklung. In den
ersten Jahren überwiegen Texte erzählenden Inhalts. In der
Zeit zwischen 1963 und 1969 geht W. häufiger auf aktuelle
Probleme und Ereignisse ein. In den letzten Jahren wird eine
Fülle exegetischer Einzelergebnissc in den Predigtvollzug aufgenommen
. Auch das ist ein Aspekt der Vergegenwärtigung,
denn die biblische Aussage kommt durch eingebrachte exegetische
Erkenntnisse in ihrer eigenen Klangfarbe stärker zur
Geltung. Und auch hier ist eine Wechselwirkung unverkennbar
. Der Predigtdienst, die Arbeit an der Vergegenwärtigung
der biblischen Botschaft, befruchtet das Fragen des Excgeten
nach den Details im Verkündigungsinhalt.

Halle/Saale Ernst Lerlc

LITURGIEWISSENSCHAFT

Ruppcrt, Rudolf: Lebendige Liturgie - ein Lernprozeß der
ganzen Gemeinde. Überlegungen zur Praxis der liturgischen
Erwachsenenbildung. Frankfurt/M.: Knecht 1975. 144 S.
8° = Beiträge zur Praktischen Theologie. Gcmcindcpastoral.
DM 17,80.