Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1977

Spalte:

380-381

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hakamies, Ahti

Titel/Untertitel:

Georg Wünschs evangelische Sozialethik 1977

Rezensent:

Ludolphy, Ingetraut

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 5

380

man die Überzeugung nicht teilen kann, daß das Pfarramt für
eine Sache eintritt, die nicht von den jeweiligen Denk- und
Lebensgewohnheiten abhängt, lohnt es sich, über das nachzudenken
, was Tillich über die Pseudorelevanz des Pastorenberufes
zwischen Geselligkeit und Psychoanalyse sagt. Relevant
wird die Botschaft dort, wo sie aus der Identifikation mit
einem „egozentrischen Aberglauben" erlöst wird. Pfarrer, die
zu den wirklichen Fragen der Menschen auch wirklich etwas
zu sagen hätten und ihren Aussagen entsprechend lebten, besäßen
auch heute Relevanz, So bedrängend einfach stellt
Tillich die Lösung eines schwerwiegenden Problems dar.

Berlin Jens Langer

Thyssen, Karl-Wilhelm: Begegnung und Verantwortung. Der

Weg der Theologie Friedrich Gogartens von den Anfängen
bis zum zweiten Weltkrieg. Tübingen: Mohr 1970. X, 304 S.
gr. 8° — Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie,
hrsg. v. G. Ebeling, E. Fuchs, M. Mezger, 12. DM 34,-; Lw.
DM 39,50.

An diesem Buche kann niemand vorbei, der sich künftig
mit der Theologie Gogartens befaßt. Die Untersuchung - eine
gekürzte Züricher Dissertation - umfaßt das gesamte Werk
Gogartens von 1914 bis 1938.

Der äußere Leitfaden für die Darstellung ist die chronologische
Abfolge der Schriften Gogartens. In tiefgründiger,
feinsten Differenzierungen nachspürender und immer ad bonam
partem interpretierender Analyse versucht Thyssen, die Grundgedanken
Gogartens und ihre einmal mehr, einmal weniger
großen Wandlungen von Schrift zu Schrift herauszukristallisieren
. Gelegentlich werden auch mündliche Äußerungen
Gogartens dem Autor gegenüber für die Deutung früherer
Positionen herangezogen. In die Untersuchung sind exkursartig
Abschnitte eingeblendet, in denen die Beziehungen Gogartens
zu früheren Denkern (Luther und Kierkegaard) und zu
manchen Zeitgenossen skizziert werden, die für Gogartens
Denken bedeutsam waren (z. B. Troeltsch, Ebner, Buber,
Grisebach, C. Schmitt, Heidegger). Das Verhältnis zu Karl
Barth wird im abschließenden § 23 ausführlich dargestellt. Ein
umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 282-302) und ein
Register erweisen sich als hilfreich bei der Lektüre des Buches
und für die eigene weitergehende Beschäftigung mit dem
Thema.

Thyssen zeigt, wie Gogartens Denken vom ursprünglichen
idealistischen Ansatz der Identität von Gott und Mensch
(„Fichte als religiöser Denker" 1914) zu einem stark mit
lutherischen Kategorien (Gesetz und Evangelium; Zwei-
Reiche-Lehre) arbeitenden dialektisch-dualistischen Konzept
gelangt. Der entscheidende Wendepunkt - das ist Thyssens
These - ist nicht mit dem Beginn der frühen dialektischen
Phase 1920 gegeben, sondern erst mit „Ich glaube an den
dreieinigen Gott" 1926, von wo an die Kategorie der Begegnung
(zunächst in der Gestalt der „Du-Ich"-Konfrontation)
herrschend wird. Der Vf. versäumt auch nicht, von seiner Sicht
aus zu bereits vorliegenden anderen Interpretationen und
Periodisierungen kritisch Stellung zu nehmen (vor allem zu
Strohm 1961, Fischer 1967 und Weth 1968). Auf Einzelpunkte
der Interpretation und der Kontroversen einzugehen, ist hier
nicht der Ort.

Als inneren Leitfaden der Entwicklung im Denken Gogartens
stellt Thyssen das Ringen um das rechte Verständnis geschichtlicher
Wirklichkeit heraus. Jeder Gedankenfortschritt habe sich
für Gogarten gleichsam notwendig ergeben aus Diskrepanzen
zwischen dem jeweiligen Wirklichkeitsverständnis und der
erfahrenen Wirklichkeit selbst (S. 20, 29) bzw. aus der Abwehr
von immanenten Aporien und fatalen Konsequenzen, die in
dem jeweiligen Konzept angelegt waren (S. 58, 98 u. o.). Der
Denkweg Gogartens bekommt in dieser nachvollzichcnden
Interpretation ein geradezu unheimlich konsequentes Gefälle:
jede Stufe geht mit innerer Notwendigkeit aus der vorhergehenden
hervor, keine ist überflüssig, jede ist differenzierter
als die frühere, jede fängt neue zusätzliche Aspekte geschichtlicher
Wirklichkeit ein. In dieser, aus dem Denken selbst sich
ergebenden und in ihm sich vollziehenden Weiterentwicklung
seiner Theologie finden dann auch gewisse Positionen Gogartens
, deren Bewertung umstritten ist, ihre positive Einordnung
: die Nähe zum Gedankengut der „konservativen
Revolution" am Ende des ersten Weltkrieges, die Aufnahme
der Kategorie „Hörigkeit" in der „Politischen Ethik" 1932 und
später des Volksnomosbegriffs. Auch die kurze Berührung mit
den Deutschen Christen wird in diesem Zuge weitgehend verständlich
zu machen gesucht (§ 17; Thyssens Abschlußurteil
dazu lautet: „ein bedauerlicher, ja verhängnisvoller Irrtum"
(S. 226) - eine der wenigen Stellen, wo der Vf. vorsichtig
Kritik an Gogarten anmeldet).

Es kennzeichnet die Qualität dieses Buches, daß alle Fragen,
die man ihm gegenüber äußern möchte, sofort Fragen an
Gogarten sind, unmittelbar in die Auseinandersetzung mit ihm
hineinziehen. Es wäre der größte Gewinn, wenn durch diese
verständnisvolle Darstellung die kritische Beschäftigung mit
Gogarten angeregt und sein Denken vor einem voreiligen
Vergessen bewahrt würde. Ein Wunsch bleibt am Schluß: daß
der Vf. uns eine ebenso minutiöse Darstellung der Spätphase
des Denkers Gogarten schenken möge.

Erfurt Martin Henschel

ETHIK

Hakamies, Ahti: Georg Wünschs Evangelische Sozialethik im
Lichte seiner werttheoretischen Gesamtauffassung. Marburg:
Elwert 1975. XV, 162 S., 1 Taf. gr. 8° = Marburger theologische
Studien, hrsg. v. H. Graß u. W. G. Kümmel, 13.

Hakamies hat das Verdienst, in seiner in klarer deutscher
Sprache gedruckt vorliegenden Habilitationsschrift erstmalig
Georg Wünschs (1887-1964) theologisches Lebenswerk in einer
Spezialuntersuchung zu betrachten und zu würdigen. Diese
Arbeit, die auf eine Anregung Professor Haikolas zurückgeht,
ergab sich aus dem Thema von Hakamies' Dissertation über
„.Eigengesetzlichkeit' der natürlichen Ordnungen als Grundproblem
der neueren Lutherdeutung" (1971).

Was der Verfasser offenbar besonders schätzt, ist die wirklichkeitsnahe
Methode Wünschs, mit der dieser seinem Lehrer
Troeltsch folgte und die ihn zur religiös-sozialistischen Bewegung
führte, der er praktisch und theoretisch gedient hat.

Wünsch ist es allerdings nicht gelungen, die heterogenen
Kräfte, die sein Leben und sein Werk beeinflußt haben und zu
denen Max Scheler sowie Nicolai Hartmann mit ihrer materialen
Wertethik, Rudolf Otto, Ernst Troeltsch - und durch diesen
vermittelt Schleiermacher - sowie Richard Rothe beitrugen,
in einem einheitlichen System zu vereinigen, zumal er zwei
gern und oft herangezogenen Kronzeugen, Luther und Kant,
nicht völlig gerecht wird. - Letzteres gilt auch für den Marxismus
. - Speziell in seiner politischen Ethik hat Wünsch in
wesentlichen Punkten reformatorischc Anschauungen preisgegeben
zugunsten zeitgebundener Vorstellungen. Deshalb bleiben
bei ihm viele Fragen offen. Noch einmal aber sei hervorgehoben
, daß er jeweils in seine Zeit hineinsprechen und Stellung
nehmen wollte zu brennendsten ethischen Fragen.

Diese Zeitnähe bedingt das methodische Vorgehen des Verfassers
, der chronologisch die theologischen Entwicklungsphasen
Wünschs, die sich in den einzelnen Werken kundtun,
jeweils in zeitgeschichtlichem Rahmen behandelt. Dabei ist
Hakamies' Einfühlungsvermögen in die deutschen Verhältnisse
ebenso hervorzuheben wie die beachtliche Durchstrukturicrung
seiner Arbeit.

Er beginnt mit den frühen theologischen Lutherarbeiten
Wünschs, auf Grund deren der sozialethische Ausgangspunkt
Wünschs skizziert wird. Davon ausgehend wird Wünschs Ver-