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Ausgabe:

1977

Spalte:

374-375

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Theurich, Henning

Titel/Untertitel:

Theorie und Praxis der Predigt bei Carl Immanuel Nitzsch 1977

Rezensent:

Wintzer, Friedrich

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373

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 5

374

Dazwischen aber lagen viele Jahre eines dramatischen
Ringens um das Verständnis der kirchlichen und staatlichen
Behörden wie der Bevölkerung. Wesley erfuhr Zustimmung
wie Abneigung in leidenschaftlichster Form im Übermaß. Sehr
oft wurde er während seiner Predigten mit Steinen und Dreck
beworfen, mehrmals befand er sich, blutig geschlagen, in
Lebensgefahr. Man streute falsche Gerüchte über ihn aus und
suchte ihn politisch wie moralisch zu diskreditieren. Andererseits
predigte er noch als 70jähriger im alten Amphitheater des
irischen Gwennap vor nicht weniger als 32 000 Menschen, und
mehrmals lauschte eine Zuhörerschaft von 20 000 Menschen
seinen Ausführungen. Seine kräftige Stimme ließ ihn zu allen
durchdringen, so wie er es ertrug, zuweilen 90 Meilen an
einem Tag „on horseback" zurückzulegen. Der Greis konnte
bei alledem Jahr für Jahr an seinem Geburtstag notieren, er
fühle sich gesünder und frischer denn je und kenne im Gegensatz
zu seiner Jugend jetzt nicht einmal mehr Kopf- und Zahnschmerzen
. Er führte dies auf seinen gesunden Lebenswandel,
den ständigen Luftwechsel, den regelmäßigen Schlaf und
seinen ausgeglichenen Charakter zurück, letztlich aber auf
Gott selbst, beseelte ihn doch ein starker Vorsehungsglaube.
Kindlich vertraute er in jedem Augenblick auf Gottes Rettung
aus der Gefahr, und in Gefahr befand er sich nicht selten. Fast
jede Fahrt auf einem Segelschiff war damals mit solchen Gefahren
verbunden, und immer erleben wir Wesley bei Seenot
auf den Knien. Ebenso verließ er sich darauf, daß Gott bei
drückender Hitze während seiner Predigt ohne schützendes
Dach Wolken vor die Sonne schiebe, was sich nicht selten
erfüllte. Gott bewahrte ihn bei Stürzen vom Pferd, meist nur
angezeigt durch die lapidare Feststellung: „Thou, O Lord, dost
save both man and beast!" (276). Gott versorgte ihn mit den
zum Lebensunterhalt unentbehrlichen Nahrungsmitteln, obwohl
er bei einem Vergleich der schriftstellerischen Tätigkeit
anderer Autoren mit der eigenen zu dem Ergebnis gelangen
konnte: „Their principal end is to get money, my only one, to
do good" (303). 30 '£ nahm er jährlich nur für sich selbst an und
hatte am Lebensende Mühe, keine Schulden zu hinterlassen.

Wesley erlebte seine „Bekehrung" über Luthers Kommentar
zum Römerbrief. Er wurde zum Prediger der Glaubensgerechtigkeit
, deren Gegensatz zur Werkgerechtigkeit er klar
erkannte, und nahm dafür auch die zeitweilige Entfremdung
von Bruder und Mutter in Kauf. Noch im Alter bemerkte er
nach der Lektüre einer Biographie des von ihm an sich sehr
geschätzten William Penn kopfschüttelnd, er könne nicht verstehen
, daß dessen erste Frau das Bewußtsein völliger Sünd-
losigkeit gehabt habe; habe sie da überhaupt gewußt, was
Sünde sei? Trotzdem verkündete er die Vollkommenheit des
Lebens eines erweckten Christen und seine klare Unterscheidung
von den anderen Menschen, darin den deutschen
Pietisten nicht unähnlich. Es ging ihm um tatsächliche Unterstellung
des gesamten Lebens unter die Herrschaft Gottes; die
Flucht vor Gottes Auftrag unter Verweis auf die Anfälligkeit
der menschlichen Natur für die Sünde kannte er nicht. Er
wollte die Nachfolge Christi leben und tat es. So duldete er
auch in den eigenen societies kein unchristliches Leben. Wer
etwa beim Schmuggel oder bei der Plünderung gestrandeter
Schiffe ertappt wurde, hatte ihre Reihen zu verlassen.

Wesley empfand ein waches Verantwortungsbewußtsein für
die Armen, die in Gefängnissen Dahinschmachtenden und die
unwürdig behandelten Kriegsgefangenen. Er selbst konnte
noch als Greis im Winter vom Morgen bis zum Abend durch
den Schneematsch waten, um für Arme zu betteln. Er gab
mannigfache Anregungen zur Verbesserung ihres Loses, aber
die soziale Frage löste er auf diese Weise natürlich nicht.
Revolutionäre Auswege lagen außerhalb seines Gesichtskreises,
Ja er verwarf jede Form des aktiven Kampfes gegen staatlich
sanktionierte Ungerechtigkeit ausdrücklich, wie er auch die
Revolte der nordamerikanischen Kolonie gegen ihr englisches
Mutterland nicht billigte. Hier blieb nur die uns heute nicht
mehr befriedigende Auskunft: „Who would not rejoice that
there is another world?" (359) Indes, auch diese Auskunft behält
ja ihr tiefes Wahrheitsmoment.

Rostock Gert Wendelborn

Theurich, Henning: Theorie und Praxis der Predigt bei Carl

Immanuel Nitzsch. Göttingen: Vandenhocck & Ruprecht
1975. 261 S. gr. 8° = Studien zur Theologie und Geistesgeschichte
des 19. Jh., 16. Kart. DM 50,-.

Carl Immanuel Nitzschs Beitrag zur wissenschaftlichen Konstituierung
der Praktischen Theologie im 19. Jahrhundert ist
in den letzten Jahren erneut erörtert worden. Beispielsweise
hat sich sein Bestreben, die Praktische Theologie von dem einseitigen
Bezug auf den Pfarrerberuf zu befreien und die
Kirchgemeinde als Subjekt kirchlichen Handelns anzusehen,
als ein noch nicht erledigtes Programm erwiesen. Darüber
hinaus sind C. I. Nitzschs Eintreten für die presbyterial-
synodale Kirchenordnung in der Rheinprovinz, seine ablehnende
Haltung im Agendenstreit sowie sein Votum für eine
positive Lehrunion der beiden reformatorischen Kirchen, besonders
in den Verhandlungen der evangelischen Generalsynode
1846 in Berlin, Gegenstand kirchengeschichtlichen
Interesses geblieben. Es mangelt jedoch bisher an Einzeluntersuchungen
zu Teilbereichen des praktisch-theologischen Werks
von C. I. Nitzsch.

Die vorliegende Arbeit, eine Bonner praktisch-theologische
Dissertation, füllt diese Lücke nun partiell aus. H. Theurich
hat die Theorie und Praxis der Predigt bei C. I. Nitzsch untersucht
und damit zugleich einen Beitrag zur Erforschung der
Homiletik, der Predigt, aber auch der theologischen Ausbildung
im 19. Jahrhundert geleistet. Als Material dienten dem Vf. in
erster Linie die 1848 in der Praktischen Theologie erschienene
Homiletik sowie die etwa 160 veröffentlichten Predigten und
die diesen Veröffentlichungen beigegebenen Vorworte. Weiterhin
waren dem Vf. Materialien über die Gründung und über
die didaktische Konzeption des 1823 in Bonn eröffneten
„Königlich-homiletischen Seminars" zugänglich, für dessen
Statuten Nitzsch den Entwurf anfertigte. Darüber hinaus hat
H. Theurich in dem vorgegebenen Rahmen auch andere Veröffentlichungen
von Nitzsch mit herangezogen und der Arbeit
die erste vollständige Bibliographie des Gesamtwerks ergänzend
hinzugefügt.

In dem ersten Hauptteil der Arbeit stellt Vf. die praktischtheologischen
Ansätze und die systmatisch-theologischen Voraussetzungen
von Nitzschs Predigttheorie dar, die zusammen
mit der Katechetik von Nitzsch als „Didaktik" bezeichnet
wurde. In einer Korrektur des Schleiermacherschen Ansatzes
griff Nitzsch auf die reformatorische bzw. altprotestantische
Definition „Dienst am Wort Gottes" (ministerium verbi)
zurück. Vf. urteilt zu Recht, daß Nitzschs terminologische Entscheidung
nicht mit einer einseitigen Bestimmung der Predigt
als Lehrpredigt verbunden war. Der Begriff der „Lehre" hat
bei Nitzsch ein breites Bedeutungsspektrum und enthält u. a.
ein evangelistisches, ein prophetisches und ein didaskalisches
Element. Eine Erörterung des Verhältnisses von Predigt und
Unterricht bei Nitzsch könnte zur Präzisierung dieses Sachverhaltes
beitragen.

Interessante Ergebnisse und Details finden sich in dem
zweiten Hauptteil über die Entwicklung von Nitzschs homiletischer
Theorie und Praxis in der Wittenberger, Bonner und
Berliner Zeit. Für die Darstellung von Nitzschs Beitrag zur
Studienreform konnte Vf. auch Protokolle über die Arbeit des
1823 gegründeten Bonner homiletischen Seminars einsehen,
die über die angewandten Predigtkriterien und die Predigtkritik
Auskunft geben. Diese Einzelstudie stellt insofern einen
wichtigen Baustein für eine noch ausstehende Gesamtdarstellung
der theologischen Ausbildung im 18. und 19. Jahrhundert
dar.

Ein dritter Hauptteil befaßt sich schließlich mit Grundfragen
und Einzelanalysen der homiletischen Praxis von C. I. Nitzsch.
Besonders die ausführliche, methodisch fundierte Besprechung
von einzelnen Predigten (z. B. S. 158-168, 171-177) unter
exegetischen, homiletischen, ekklesiologischen und zeitgeschichtlichen
Gesichtspunkten trägt wesentlich zur Erhellung
von Nitzschs Predigtkonzeption bei, auch wenn Nitzschs Predigten
partiell nicht den Ansprüchen seiner eigenen Theorie
entsprachen. Der reflexive Stil und die starke Akzentuierung