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Ausgabe:

1977

Spalte:

363-365

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Baumeister, Theofried

Titel/Untertitel:

Martyr invictus 1977

Rezensent:

Schenke, Hans-Martin

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363

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 5

364

KIRCHENGESCHICHTE: ALTE KIRCHE

Baumeister, Theofried: Martyr Invictus. Der Märtyrer als
Sinnbild der Erlösung in der Legende und im Kult der frühen
koptischen Kirche. Zur Kontinuität des ägyptischen Denkens.
Münster/W.: Regensberg [1972]. 219 S. 8° = Forschungen
zur Volkskunde, hrsg. v. B. Kötting u. A. Schröer, 46. Kart.
DM 50,-.

Die vorliegende Arbeit ist eine für den Druck leicht überarbeitete
Dissertation - angeregt und gefördert von B. Kötting
und M. Krause -, die im Wintersemester 1970/71 vom Fachbereich
Katholische Theologie der Universität Münster angenommen
worden ist. Ihr Gegenstand sind die koptischen
Märtyrerlegenden. Und zwar ist - neben der Aufarbeitung
des Materials - die besondere Absicht B.s, diesem von der
kritischen Hagiographie als minderwertig angesehenen und
deswegen vernachlässigten Bereich endlich Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen. Die Geschichten, um die es hierbei
geht, sind ja wirklich scheußlich; aber B. ist in der Lage, einen
zu bekehren, und findet die Perspektive, in welcher selbst
diese Geschichten doch interessant und bedeutungsvoll werden.
Wie schwer die Aufgabe der Sinnfindung auch für B. allerdings
ist, kann man am pikantesten aus S. 178 entnehmen, wo sich
ihm selber anläßlich des möglichen (aber das Verständnis verfehlenden
) Verdikts der koptischen Märtyrerlegenden als
„primitiv" die Parallele mit der Menschenfresserei aufdrängt.
Das einleuchtende Ergebnis von B.s interpretatorischen Bemühungen
um die Texte kommt bereits in den beiden
Untertiteln seines Buches zum Ausdruck, die seine beiden entscheidenden
Thesen implizieren: 1. Die typisch koptischen
Märtyrerlegenden sind Kultätiologien und als solche wertvolle
Geschichtsquellen (zwar nicht für die Geschichte der Christenverfolgung
in Ägypten, wohl aber) für die koptische Religiosität
im allgemeinen und den koptischen Märtyrerkult im besonderen
, vor allem insofern, als sich in ihnen eine bestimmte Heilserwartung
der koptischen Christen widerspiegelt. 2. In der den
typisch koptischen Märtyrerlegenden eigenen Sicht des Märtyrerleidens
(hinsichtlich seines Doketismus und in der Betonung
der wiederholten Folge von leibzerstörender Folter und
Wiederherstellung des Leibes vor dem unbetonten eigentlichen
Märtyrertod) bekundet sich eine alte und konstant gebliebene
ägyptische Geisteshaltung innerhalb eines neu in Ägypten eingepflanzten
fremden (nämlich jüdisch/christlichen) Traditionsgutes
.

Der Weg, den B. in der Darbietung und Durchleuchtung
seines Problems und seines Stoffes nimmt, führt über eine
instruktive Einführung in die Geschichte und den Stand der
Legendenforschung (S. 11-31), mit der er sich einen der
modernen Forschungslage entsprechenden und methodisch
sinnvollen Ausgangspunkt für das Herangehen an die koptischen
Märtyrerlegenden erarbeitet. Dennoch geht es danach
nicht gleich in den koptischen Legendenstoff hinein. B. wählt
vielmehr mit einleuchtender Begründung einen Umweg, indem
er noch zwei Kapitel dazwischenschaltet. Das erste Kapitel behandelt
„Ursprung und Bedeutung des Martyrerbildes der
Legende" (S. 32-50); hier wird die Verwurzelung der späteren
Märtyrerlegende in jüdischen, ur- bzw. frühchristlichen und
hellenistischen Martyrien und ihrer jeweiligen Deutung aufgewiesen
. Nun geht es aber keineswegs weiter zur griechischen
christlichen Märtyrerlegende, um so schließlich zur koptischen
als ihrem Ableger zu kommen; der Weg wäre ja auch aussichtslos
lang. Die griechische Märtyrerlegende tritt vielmehr
später und nur als allgemeiner Hintergrund der koptischen
ins Blickfeld. Im zweiten Kapitel wird gleich der Sprung nach
Ägypten vollzogen, aber erst noch, was man aus anderen
Quellen über die dortige Märtyrerverehrung und ihren Zusammenhang
mit dem ägyptischen Totenkult weiß bzw.
erschließen kann, zusammengestellt (S. 51-86). Das dritte
Kapitel (S. 87-148) ist dann dem Stoff, um den es eigentlich
geht, gewidmet. Und zwar bietet B. hier einen Überblick über
den Inhalt der in Publikationen vorliegenden koptischen
Märtyrerlegenden unter Hervorhebung der für seine Fragestellung
und in seiner Perspektive wichtigen Motive und
Strukturen. Dabei unterscheidet er zwischen der großen Menge
der koptischen Märtyrerlegenden, die untereinander in
Motivik und Struktur in auffälliger Weise übereinstimmen, als
den eigentlich typischen, die er Martyrien des koptischen
Konsenses nennt und in ihrem Wesen als Legenden vom unzerstörbaren
Leben bestimmt, und einzelnen anderen, die es
daneben auch gibt. (Vgl. die Formulierung des Ergebnisses
dieses Teils auf S. 145-148.) Das vierte und letzte Kapitel
„Griechischer Ursprung und koptische Rezeption der Legenden
vom unzerstörbaren Leben" (S. 149-183) kann man als die
eigentliche bzw. endgültige Auswertung des vorher dargebotenen
Stoffes betrachten. In ihm spielt die Erörterung der Beziehung
zwischen der griechischen Georgslegende (die schon
eine Legende vom unzerstörbaren Leben sei und als eine Art
Vorbild für die entsprechenden koptischen gelten müsse), der
griechisch-ägyptischen Paphnutiuslegende und der (als Paradigma
verstandenen) koptischen Anublegende eine zentrale
Rolle. Dabei glaubt B., schon für die Georgslegende ägyptischen
, genauer: alexandrinischen Ursprung wahrscheinlich
machen zu können. Und die Paphnutiuslegende gilt ihm als
Muster für den Obergang von dieser griechischen Gestalt der
Legende vom unzerstörbaren Leben zu dem Typ des koptischen
Konsenses. (Vgl. im übrigen auch B.s eigene, vom Gesichtspunkt
des intendierten Zieles bestimmte Zusammenfassung
seiner vier Kapitel auf S. 30 f.)

Wenn man das Werk von B. insgesamt betrachtet, können
einem vier Sachverhalte als besonders hervorhebenswert
erscheinen:

a) Mit B.s Bestimmung der koptischen Märtyrerlegenden als
Kultätiologien, die einem sofort einleuchten, findet das häufig
beobachtete topographische Interesse dieser Texte eine zwanglose
Erklärung. Trotz der Vernachlässigung dieser Texte hat
sich ja die Forschung für die so zahlreich in ihnen enthaltenen
topographischen Angaben immer interessiert und sie für die
wissenschaftliche Topographie Ägyptens zur Zeit der Abfassung
der Texte ausgewertet. Und nun weiß man eben, wie es zu
diesem Phänomen der gehäuften Ortsangaben kommt.

b) B. weist mit Recht darauf hin, daß die Märtyrerlegenden
insgesamt in einem hohen Maße von der hellenistischen Vorstellung
des theios aner geprägt sind. Aber er verfolgt diesen
Aspekt nicht konsequent innerhalb der koptischen Märtyrerlegenden
weiter (wohl weil dieser eben allgemein hellenistisch
ist, und B. sich speziell für das typisch Ägyptische interessiert).
Gleichwohl ist gerade die koptische theios-aner-Hagiologie
hochinteressant und könnte einen wichtigen Beitrag zum Verständnis
dieser Vorstellung im allgemeinen und insbesondere
zum Verständnis der theios-aner-Christologie der kanonischen
Evangelien leisten, insofern als gerade in diesem koptischen
Bereich das Pendant der theios-aner-Vorstellung, nämlich das
entsprechende Selbstverständnis, die Heilserwartung und die
Praxis der von solcher Vorstellung beherrschten Gläubigen
deutlich sichtbar wird.

a) Die Methodik, mit der B. an die interessante und zugleich
verführerische Frage nach typisch Ägyptischem in den koptischen
Märtyrerlegenden herangeht, ist vorbildlich. Er ist
vorschnellen und kurzschlüssigen Identifizierungen abhold. In
dieser Perspektive ist auch seine sorgfältige Unterscheidung
und Abstufung zwischen griechisch-ägyptisch und koptisch zu
sehen. Für B. besteht das typisch Ägyptische an den koptischen
Märtyrerlegenden im wesentlichen nur in der besonderen,
differenzierenden und Schwerpunkte verlagernden bzw. verstärkenden
Aufnahme von nicht-ägyptischen (christlichen)
Traditionen.

d) Das von B. an den koptischen Märtyrerlegenden als
typisch für das koptische Ägypten Herausgearbeitete, nämlich
der Sachverhalt der Kultätiologie und die Vorstellung der
Integrität des Leibes, ist vielleicht nicht ganz so einheitlich und
so zusammengehörig, wie es B. erscheint und wie er es darstellt
. Mir kommt es so vor, als sei der mit „Kultätiologie" bezeichnete
Gedanken- und Vorstellungskomplex wohl typisch
koptisch, aber weniger wesentlich ägyptisch als die Konzeption
von der Integrität des Leibes, während die beiden Sach-