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Ausgabe:

1977

Spalte:

312-313

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Besier, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die Preussische Kirchenpolitik 1866 - 1872 1977

Rezensent:

Besier, Gerhard

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Theologische Lit e r a t ur zei tu n g 102. Jahrgang 1977 Nr. 4

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behandelt. Die altorientaUsche Klassengesellschaft des 1. Jahrtausends
v. Chr. wird, trotz aller inneren Unausgeglichenheiten
und Widersprüche, als frühfeudale Gesellschaft bezeichnet.

Der II. Teil wendet sich nun dem wirtschaftlichen Einfluß
Assyriens auf Südsyrien und Palästina zu. Die Art und Weise
des wirtschaftlichen Einflusses Assyriens verändert siel» im
Laufe der Geschichte immer zuungunsten der ausgebeuteten
Staaten. Vor Tiglatpileser III. unterlagen die südsyrischen und
palästinensischen Staaten dem militärischen, seit Tiglatpile-
sers III. Feldzügen gegen Philistäa und Damaskus dem administrativen
Stadium wirtschaftlichen Einflusses. Während das militärische
Stadium des wirtschaftlichen Einflusses durch drei Phasen
gekennzeichnet werden kann, umfaßt das administrative
Stadium neun Phasen, die sich gegenseitig bedingen, voneinander
abhängen und sich überschneiden. Die folgende Unterscheidung
ist in der Praxis natürlich nicht so eindeutig wie in der
Theorie, denn militärische Aktionen und kriegerische Gewalt
blieben immer erhalten. Denn der außerökonomische Zwang
Assyriens basierte auf seiner Militärmacht. Das administrative
Stadium ist ohne das militärische undenkbar, aber das militärische
hat nicht unbedingt das administrative Stadium zur
Folge. Das militärische Stadium ist gekennzeichnet: 1. durch
Geschenke (wenn das assyrische Heer bedrohlich nahe war,
aber nicht im eigenen Land stand), 2. durch militärische Aktionen
und 3. durch Tributleistuugen (wenn das assyrische Heer
im Lande oder unmittelbar im Grenzgebiet war). Das administrative
Stadium wird gekennzeichnet: 4. durch jährliche Abgaben
(madattu; tämartu, nämurtu), 5. durch Landraub und
Gebietsverkleinerung, 6. durch Kontrolle der Verkehrs- und
Handelswege, 7. durch Aufhebung der Eigenstaatlichkeit und
Eingliederung in das assyrische Provinzialsystem, 9. durch Umsiedlungen
und Deportationen (und 10. durch militärische Aktionen
). Erst der Niedergang der assyrischen Macht erlaubt den
Provinzen und Tributärstaaten wieder größere politische und
ökonomische Unternehmungen, wie denn auch die restaurative
Renaissance in Juda unter Josia mit der politischen Befreiung
von assyrischer Gewalt und Vormundschaft zusammenhängt.
Diesem Teil der Untersuchung sind noch zwei Exkurse beigegeben
. Exkurs I beschäftigt sich mit den Ostraka von Samaria,
und Exkurs II untersucht den Zusammenhang von assyrischer
Wirtschaftspolitik und phönikischer Kolonisation. Die Behandlung
der Ostraka ergab: Die Ostraka von Samaria stehen nicht
im Zusammenhang mit dem Tribut Menahems an Tiglatpileser
III. (so Y. Yadin), und sie können auch nicht als Begleitschreiben
von Lieferungen des israehtischen Kronguts (so M.
Noth) interpretiert werden. Vielmehr sind drei Gattungen zu
unterscheiden: 1. Begleitschreiben für Pachtheferungen an den
Königsoikos (Ostraka 4-8; 9+10; 12+14; 17-21). 2. Abgabenbegleitschreiben
für Nahrungsgüter, die zur Magazinierung in
Samaria bestimmt sind (Ostraka 22—39; 42; 45—49), 3. Lieferbescheinigungen
von königlichen Ländereien (Ostraka 53+54;
60+61). Die im Exkurs II aufgeworfene Frage kann positiv
beantwortet werden: Die entscheidende Epoche der phöniki-
schen Kolonisation im Mittelalter fällt in die Zeit des „assyrischen
Jahrhunderts" der Levante (755—631) und wurde von
der assyrischen Großmachts- und Wirtschaftspolitik entscheidend
beeinflußt, wenn nicht immer veranlaßt, so doch intensiviert
.

Der III. Teil schließlich wendet sich der Bedeutung der assyrischen
Wirtschaftspolitik für die israelitische Religion zu. Die
Folgen der assyrischen Aggression und Okkupation sind ebenso
wie die unter dem wirtschaftlichen Einfluß Assyriens entstandene
politische, gesellschaftliche und soziale Situation theologisch
interpretiert, kritisiert und verantwortet worden: In Israel durch
llosea und das Deuteronomium, in Juda durch Jesaja und
Micha. Im einzelnen ergab sich: 1. Die mit der assyrischen Eroberungspolitik
aufbrechenden Fragen nach der (Weiter-) Existenz
Israels beantwortet Hosea mit der Hoffnung auf einen
erneuten Auszug und eine neue Landnahme. 2. Die Sorge um
die staatliche und damit auch völkische Existenz Israels angesichts
der assyrischen Bedrohung bildet den Hintergrund und
die Ursache für die Entstehung deuleronomischer Theologie.
3. Jesaja betrachtet und kritisiert die assyrische Außenpolitik
und ihre Folgen für Juda im geschichtstheologischen Kontext

von Jhwhs Geschichtsmäehtigkeil. Schließlich 4. Micha hat die
Frage nach der Weiterexistenz Judas angesichts der ökonomischen
und politischen Pression Assyriens auf sein Land ganz
radikal beantwortet, indem er sie verneint hat. Die hier behandelten
Entwürfe von Theologie in Israel und Juda geben
uns keine direkte Antwort auf die Frage nach der Bedeutung
der assyrischen Wirtschaftspolitik für die israelitische Religion,
etwa der Art, daß die Wirtschaftspolitik der Assyrer und ihre
Folgen für Israel und Juda zum eigenen Thema religiöser Da-
seinsinlerprelation geworden wäre. Aber sowohl Hosea und das
Deuteronomium als auch Jesaja und Micha haben die von der
assv rischen Palästinapolitik provozierte Frage nach der Weiterexistenz
ihres Volkes und ihres Landes innerhalb ihrer Theologie
als Rede von Jhwh beantwortet und diese ihre Antwort
zu verantworten gesucht.

Besier, Gerhard: Die preußische Kirchenpolitik 1866—1872.
Diss. Tübingen 1976. 892 S.

Die Arbeit bemüht sich auf der Grundlage bisher noch nicht
ausgewerteter Quellen um den Nachweis, daß nicht erst zwischen
1873 und 1876 — wie es bislang in der Literatur vertreten
wurde —, sondern schon vorher, nämlich zwischen 1866
und 1872 alle wesentlichen kirehenpolilischen (und damit auch
kirchcnverfassungsrechtlichen) Entscheidungen für den ganzen
Zeitraum der Wilhelminischen Ära (1871—1918) gefallen sind.

Die umfangreichen Annexionen Preußens nach seinem Sieg
über Österreich und dessen Verbündete brachte eine Reihe von
Landeskirchen in den preußischen Herrschaftsbereich, die zum
Teil schon eine ausgebildete konsistorial-synodale Mischverfassung
besaßen und sich zum exklusiven lutherischen Konfessionalismus
bekannten. Gemeinsam mit den Lutheranern in
der ApU und darüber hinaus aus ganz Deutschland (bes. Erlanger
und Rostocker Theologen) kämpften namhafte Vertreter
dieser vormals selbständigen Kirchen mit anonymen Streitschriften
, Zeitungsartikeln (in der EKZ u. AELKZ), aber auch
mit offiziellen Eingaben gegen eine Unterstellung ihrer Pro-
vinzialkirchen unter den unierten Evangelischen Oberkirchenrat
und für die Konstituierung einer evangelisch-lutherischen
Kirche Großpreußens.

Dieses Projekt gefährdete die Existenz der Allpreußischeu
Union und ihre oberste Kirchenbehörde. Darum ließ der EOK
unter Führung von Mathis und Holtmann nichts unversucht,
um bei dem König die kirchliche Eingliederung der neuen
Kirchenprovinzen zu erwirken. In diesen Hemühungen wurde
das Kirchcnrcgiment von der kirchenpolitischen Gruppierung
der Positiv-Unierten und seinem publizistischen Sprachrohr, der
NEKZ, unterstützt.

Bismarck und das Staatsministerium verhinderten jedoch eine
solche gewaltsame Einverleibung, da sie die politische Integration
der gerade erst annektierten Provinzen in das preußische
Staatsgebilde nicht unnötig durch kirchliche Streitfragen erschweren
wollten.

Aber nicht nur zwischen dem EOK und dem König auf der
einen und Bismarck und dem Staatsministerium auf der anderen
Seite herrschten tiefgreifende kirchenpolitische Meinungsverschiedenheiten
: Der preußische Ministerpräsident, dessen kirchenpolitisches
Denken sich an dem föderativen Kirchenver-
fnssungsniodell Fabris orientierte, hatte, wegen der kirchlichen
Frage auch schwere Differenzen mit seinem Kultusminister. Er
hintertrieb — zumeist mit Erfolg — alle Maßnahmen, die
Mühler zur Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse ergriff,
und gewährte ihm keinerlei Unterstützung in der Auseinandersetzung
mit der liberalen Ahgeordnetenhausmehrheit und dein
Proleslanlenverein. Die Anhänger dieser freisinnigen Kirchenpartei
scharten sich um Krauses PKZ, propagierten eine rein
synodale Kirchenordnung und hofften, nach dem Sieg des politischen
Liberalismus die Herrschaft in der Kirche übernehmen
zu können.

Als Bismarck seinen Kultusminister Ende 1871 schließlich zu
Fall brachte, weil dieser gegen die Kulturkampfgesetzgebung
opponiert hatte, war es Mühler zuvor gleichwohl gelungen, die
Richtlinien der evangelischen Kirchenpolitik in Neupreußen so-