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Ausgabe:

1977

Spalte:

297-299

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ringeling, Hermann

Titel/Untertitel:

Neue Humanität 1977

Rezensent:

Wiebering, Joachim

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Theologische Iäteraturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 4

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der Tübinger Schule (v. Hirscher). Der von Klculgen vertretenen
Neuscholastik wird wegen ihrer polemischen und konservativen
Haltung größere Bedeutung im geistigen Ringen der
Zeit abgesprochen. Peter Hünermann stellt vier Vertreter
der älteren Tübinger Schule vor, die um die Jahrhundertmitte
eine Antwort aus katholischer Tradition und in Aufgeschlossenheit
für die Zeit suchten. J. A. Möhler plädierte für
eine „Erweckung und innere Verlebendigung des christlichen
Geistes und der Kirche", ohne die Eigenart der sozialen Veränderungen
zu begreifen. J. B. von Hirscher hielt an der romantischen
Organisniusidee fest, was von F. A. Staudenmaier
noch durch eine spekulative Deutung der Zeilgeschichte in pessimistischem
Sinn untermauert wurde. J. E. von Kuhn verriet
im Streit um die Gründung einer katholischen Universität Verständnis
für den Aufbruch der modernen Wissenschaften und
deren methodische Selbständigkeit. Im ganzen bezeugt das Werk
dieser Männer trotz ihrer Aufgeschlossenheit, wie langwierig
der Lernprozeß im deutschen Katholizismus war.

In der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich die Neuscholastik
als beherrschende Richtung in der katholischen Theologie
durch und erweckte die mittelalterliche Rechts- und Staatsphilosophie
zu neuem Leben. Alexander Hollerbach
untersucht den Beitrag dieser Bewegung zur Entwicklung der
Hechtswissenschaft und -philosophie in Deutschland. Er entwickelt
ein vielfarbiges Bild und stellt vor allem die Juristen
C A. Droste zu Hülshoff, L. A. Warnkönig und F. Walter vor,
die dem Naturrecht gegenüber dem vordringenden Positivismus
in der Rechtsphilosophie Nachdruck verleihen wollten. Für die
Ncuscholastik wird diese Tendenz noch an einem markanten
Beispiel von Clemens Bauer dargestellt. Er behandelt die
Aussagen über das Naturrecht und seine Anwendung in Staat,
Wirtschaft und Gesellschaft in der ersten Auflage (1889-1897)
des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft. Die neuscholastische
Naturrechtslehre fungierte nun als Generalnenner für alle Strömungen
im deutschen Katholizismus und wirkte sich auch auf
die großen Enzykliken Leos XIII. zu sozialen Fragen aus.

Der umfangreichste und wohl auch interessanteste Beitrag
des Bandes stammt vom Herausgeber Albrecht L a n g n e r. Er
wendet sich der Gestalt des bekannten deutschen katholischen
Bisehofs jener Zeit, Wilhelm Emmanuel von Ketteier, zu und
stellt die Grundlagen seines sozialethischen Denkens vor. Seinen
Ausgang hat Ketteler von der organologischen Staatsphilosophie
genommen. Christentum und Kirche sah er im Anschluß
an den einflußreichen protestantischen Juristen Friedrich Julius
Stahl als Leb ensprinzip der Gesellschaft. Durch die Unterscheidung
eines antiabsolutistischen Frühliberalismus von einem entarteten
Spätliberalismus hat Ketteler später jedoch versucht,
liberal geprägte Begriffe und Forderungen mit dem katholischen
Standpunkt zu vereinbaren. Diese Verbindung von organolo-
gischem und liberalem Denken macht Kettelers Sozialethik
widerspruchsvoll, aber sie ist nicht nur taktisch bedingt, sondern
aus einer „offenen", d. h. in Bewegung befindlichen politischen
Theorie erwachsen. Ketteler stand zwischen den Strömungen
l'nd ist darum später von den verschiedensten Gruppen in Anspruch
genommen worden, von der Zentrumspartei bis zum
Solidarismus.

Für die Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts
bringt der Band interessante Einzelheiten bei. Allerdings
seigt er auch, wie wenig der deutsche Katholizismus auf die
Auseinandersetzung mit dem spätbürgerlichen Kapitalismus
und dem sich formierenden Sozialismus gerüstet war.

^■P^i» Joachim Wieberiog

^■"geling, Hermann: Neue Humanität. Beiträge zur theologischen
Anthropologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn [1975]. 123 S. 8° = Gütersloher Taschenbücher,
95. DM 8,80.

Die theologische Anthropologie, die bisher innerhalb der
"ogmalik verhandelt wurde, gewinnt immer größere Bedeu-
*l,ng für die Begründung der theologischen Ethik. Nachdem
bereits W. Trillhaas die Ethik als angewandte Anthropologie

bezeichnet hat, deren Material durch unser Menschsein und
nicht erst durch unser Christsein vorgegeben sei („Ethik", 3. A.
1970), finden sich weitere Stimmen, die der theologischen Anthropologie
eine Schlüsselstellung für die Bewältigung ethischer
Fragen zusprechen. Ihnen schließt sich nun der Berner Ordinarius
für theologische Ethik und Psychologie, Hermann Ringe-
ling, an, der eine thematisch geordnete Sammlung von Aufsätzen
und Referaten zur theologischen Anthropologie als Orientierung
für die Sozialethik vorlegt.

Anthropologische Forschung wird heute in interdisziplinärer
Kooperation betrieben, und darum bedarf auch die theologische
Anthropologie des Hörens auf und dos Dialogs mit anderen
Humanwissenschaften. In Ringelings Beiträgen sind das vor
allem die Soziologie der bürgerlichen Gesellschaft und die
Sexualwissenschaften, denen der Autor schon in anderen Veröffentlichungen
besondere Aufmerksamkeit zugewandt hat. Das
zentrale Prinzip der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sei
(mit einem Ausdruck IL Schelskys) die „Reflexionssubjektivität
des Individuums" (S. 57), die auch von der Theologie nicht
ignoriert werden dürfe. Die dadurch gewonnene Freiheit von
institutionellen Zwängen der Vergangenheit sei allerdings ambivalent
; sie provoziere neue Bedürfnisse und neue Unsicherheiten
, die bisher nicht institutionell aufgefangen worden sind.

Bingeling exemplifiziert das vor allem an der Einstellung
zur Sexualität, die heute von der Spannung zwischen Freiheit
von vorgegebenen Normen und neuen Bedürfnissen bestimmt
wird. Die angebliche „Revolution der Sexualmoral" erweist, sich
bei näherem Hinsehen als eine Evolution im Sinne der „Anpassung
einer traditionellen Moral und ihrer Institutionen an
die Bedürfnisse und Erwartungen der gegenwärtigen Lebenswelt
des Menschen" (S. 45). Die Monogamie bleibt dabei weiterhin
das überzeugende humane Phänomen zur Gestaltung personaler
sexueller Beziehungen, weil sich die Erfahrung bestätigt
, „daß menschliches Leben sich gleichsam reziprok in größerer
Fülle zurückgewinnt, wenn es sich liebend auf anderes, fremdes
menschliches Leben einläßt" (S. 40). Die nicht zuletzt unter dem
Einfluß christlicher Vorstellungen erzielte Personalisierung der
sexuellen Beziehungen dürfe nicht als Alternative zur Versachlichung
der Kontakte im Arbeitsprozeß der Gesellschaft betrachtet
werden; die sozialen Rollen, „in denen Mann und
Frau gleichartig existent sind", und die erotische Beziehung
„müssen in der Identität der Person verarbeitet werden",
ohne beides incinanderzumengen (S. 38).

Ringeling stützt sich jetzt stärker, als dies etwa noch in
seinem Buch „Theologie und Sexualität" (Gütersloh 1968) der
Fall war, auf die Anthropologie Karl Barths, in der er konstruktive
Fragen an die gegenwärtige theologische Anthropologie
findet. Daneben wird auf Paul Tillich verwiesen, der die
theonome Motivation menschlichen Handelns mit der neuzeitlichen
Subjektivität in fruchtbarer Weise verbunden habe. Die
Emanzipation des Menschen, die aus seiner gewachsenen Macht
über die außermenschliche Natur und aus der Steigerung der
Beflexionsstufen resultiert, wird jedoch durch das Prinzip der
Bechtfertigung gebrochen, das die unmittelbare Selbstverwirklichung
des Individuums in Frage stellt. Hier biete die lutherische
Tradition mit der Zweireichelehre eine „hermeneutische
Hilfskonstruktion" an, durch die eine Vermittlung von kritischer
Vernunft und geglaubter Liebe möglich wird (S. 86). Die
lutherische Tradition von Beruf und Amt erhält im Anschluß
an T. Bendtorff und U. Duchrow die Funktion, dem Schutzamt
Gottes angesichts der in der menschlichen Subjektivität drohenden
destruktiven Kräfte sachgemäßen Ausdruck zu leihen, obwohl
in der Praxis der lutherischen Kirchen dies Schutzamt.
jahrhundertelang nur den Landesherren zugespielt wurde. So
wird die Bechtfertigungslehre auf das moderne Interesse an
der Emanzipation ausgelegt, wobei m. E. die Frage sich erhebt
, ob das Prinzip der Bechtfertigung in dieser Argumentation
nicht reduziert, worden ist auf den eschatologischen Vorbehalt
, dessen Konsequenz ebenfalls eine Relativierung de«
allgemeinen Interesses an Emanzipation sein wird.

In den beiden letzten Beiträgen des Bandes, der insgesamt
acht Aufsätze und Beferate umfaßt, widmet sich Ringeling
einer Problematik, die durch die aktuelle Diskussion in der
BBD provoziert worden ist, der Frage nach der „Lebens-