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Ausgabe:

1977

Spalte:

228-232

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer, Olaf

Titel/Untertitel:

Politische und gesellschaftliche Diakonie in der neueren theologischen Diskussion 1977

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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227

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 3

228

vornehmlich seit dorn Tridentinum, wobei auch die regionalen
und provinzialen Konzile und weitere kirchliehe
Versammlungen einbegriffen sind. Vf. setzt mit der Analyse
des tridentinischen Erbes ein und zeigt, wie die
patriarchalische Konzeption der Zeit des 10. .J ahrhunderts
sich in Familie und Kirche gleicherweise auswirkt. Das
erlaubt zwar, dem christlichen Hausvater große Bedeutung
zuzuerkennen: Hausandachten, häusliches Bibelstudium
, vorbildliches heiligmäßiges Leben werden besonders
auf den unter Karl Borromäus gehaltenen 6 Mailänder
Konzilen (1565-1582) im Anschluß an den Catechis-
mus Romanus des Konzils von Trient gefordert. Aber die
Eltern werden dabei begriffen als Repräsentanten der
Hierarchie vor den Kindern, und die Hierarchie behält die
Erziehung der Kinder letztlich in eigener Hand. Kleriker
und kirchliche Lehrer betrachten sich als väterliche Autorität
für die Eltern und „haben die Tendenz, ihnen ihre
eigene spirituelle Fruchtbarkeit zu rauben" (S. 5:5).

Nennenswerte Funde zeigen sich erst wieder im 1!). Jh.,
da das 17. und das 18. Jh. ausgesprochen arm an kirch-
lichen Versammlungen sind. Die über 120 Konzile des
19. Jhs., vom Vf. nach Regionen oder Nationen geordnet,
schweigen fast völlig über eine spezifische missionarische
Aufgabe der Eltern. Die Eltern haben lediglich dafür zu
sorgen, ihre Kinder unter die Obhut der Eierarchischen
Autoritäten zu bringen (s. Österreich S. 114). Ansätze
einer spezifischen Verantwortung der Eltern für die reli
giöse Zürüstung der Kinder zeigen sieh in Frankreich
(S. 157 u. 159), doch erhallen die Eltern im allgemeinen
keine Eilfesteilung von der Hierarchie zur Erfüllung die
ser Aufgabe (S. 106). Etwas günstiger liegen die Verhältnisse
in den Vereinigten Staaten. Die Regionalkonzile
zwischen 182Ü und 1809 schätzen die Bedeutung der
Eltern beim Einpflanzen des Katholizismus in diesen
Wachstumsjahren Nordameri kas. - In Deutsch land macht
das Mischehenproblem die missionarische Verantwortung
der Eltern zu einem Thema des deutschen Nationalkonzils,
das auf Initiative des Kölner Erzbischofs von Geissei in
Würzburg 1848 stattfand. Die religiöse Erziehung der
Kinder durch ihre eigenen Eltern wird unterstützt (S.118).
- Das Erste Vatikanische Konzil kommt in den Texten,
die bis zum Abbruch des Konzils promulgiert werden, auf
die Eltern nicht zu sprechen.

Vf. erhebt als Zwischenbilanz ein mangelndes Vertrauen
des Klerus in die Eltern bei der Aufgabe, das christliche
Leben und die Unterweisung ihrer Kinder zu befestigen
(8. 300).

Das Zweite Vatikanische Konzil bietet ein anderes Bild.
Der Durchbruch zu einer originalen geistlichen Verantwortung
der Eltern ist erzielt. Im Jahre 1963 tastet man
zunächst noch (Liturgie-Konst. 77) und bleibt im Protektionismus
des 19. Jhs. stecken (Dekret über die Kommunikationsmittel
10 u. 13f.), doch im Jahr darauf ist die erneuerte
Sicht gewonnen (Dogm. Konst. über die Kirche).
Die Poltern haben eine besondere Gnade und Mission. Der
frühere Paternalismus der Priester ist zu väterlicher
Dienstfunktion gewendet. Allgemeines Priestertum und
Laienapostolat und das Ganzopfer der Hingabe im täglichen
Loben gründen auf der besonderen Berufung der
Eheleute, .sieh selber einander und ihren Kindern Zeugen
des Glaubens und der Liebe Christi zu sein (35 u. 38). Es
kommt zu einer Definition der kirchlichen Bedeutung der
Familie: „Was gesunde menschliche Gemeinschaft und
was Kirche ist, erfahren die Kinder zum erstenmal in einer
solchen christlichen Familie, durch sie werden sie auch
allmählich in die weltliche Gemeinschaft und in das Volk
Gottes eingeführt" (Erklärung über die christliche Erziehung
3). Ausdrücklich werden die damit verbundenen
Aufgaben der Eheleute als der wichtigste Aspekt ihres
Apostolates verstanden (Dekret über denApostolat der
Laion 11).

Die katholische Kirche des 19. Jhs. mit ihrer „Politik

der Stärke", mit einer Hierarchie voller Mißtrauen in die
Laien, mit ihren passiven und unmündigen Laien ist nach
Meinung Vfs. vergangen. Was kommt, ist eine Kirche voll
Vertrauen in die Glieder des Gottesvolkes, besonders in
die Eltern, und in ihr Vermögen zu apostolischer Verantwortung
(S. 342). Welchen Platz die Eltern in der Kirche
von morgen als „Vorposten der apostolischen Front" einnehmen
werden, vermag Vf. konkret noch nicht zu sagen;
die Perspektiven sind aber im Zweiten Vat. Konzil gegeben
. Eines steht fest: die Eltern sind nicht allein; die
ganze Kirche ist mit ihnen (S. 356).

Vf. verziehtet darauf, zwischen 1870 und 1962 die Entwicklung
darzustellen, in deren Verlauf die apostolische
Mission der Eltern eine solche Erneuerung erfuhr; „es
gäbe ein ganzes Buch" (S. 308). Man wird das respektieren
müssen, aber doch gleichzeitig bedauern. Denn gerade in
diesen Jahrzehnten der Wiederentdeckung des Allgemeinen
Priestertums der Gläubigen in der römisch-katholischen
Kirche läßt sieh das Hingen verfolgen zwischen
einem Verständnis des Laienapostolates als eines verlängerten
Armes der Hierarchie im Sinne der „Katholischen
.Aktion" einerseits und einem Streben nach eigen-

st ändiger unauswechselbarer apostolischer Verantwortung
der Laien im Sinne der ..Aktion der Katholiken" andererseits
, wie es auf den Weltkongressen für Laienapostolat in
den fünfziger Jahren so leidenschaftlich zum Ausdruck
kam. Noch in den Konzilstexten sind beide Richtungen zu
erkennen. Dabei- wird man Vfs. Urteil, die alte kat holisehe
Kirche paternalistisoher Observanz sei vergangen, noch
immer erst zu einem guten Teil als Ausdruck der Erwartung
werten dürfen.

Das Buch lag 1070 als Dokt oratsthese der Theologischen
Fakultät von Lyon vor. Das erklärt den erschöpfenden
Umfang der Recherchen. Indessen, derartige Untersuchungen
sind nicht zu umgehen, und dem Vf. gebührt
Dank für seinen Fleiß, mit dem er dem Loser vorauseilt.
Griffige Zusammenfassungen gestatten Unterwcgsorien-
tierungen und machen die Arbeit übersichtlich.

POqltlM Leipzig Christoph Michael |[auf<)

Meyer, Olaf: „Politische" und „Gesellschaftliche Diakonie" in der
neueren theologischen Diskussion, (iöttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht [1974]. IV, 479 S. gr. 8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie
, hrsg. v. M. Fischer u. R. Frick, 12. Kart. DM 48,—.

Nach einleitenden Vorbemerkungen wird in einem ersten
Kapitel „Entstehung und Vorgeschichte" des Begriffes
„der ,politischen Diakonie' " verhandelt. Der Begriff
bekommt auf Grund der negativen Erfahrungen mit
dem deutschen Faschismus in der evangelischen Kirche
nach 1945 einen besonderen Stellenwert. Durch die Arbeit
des Evangelischen Hilfswerks, als einer - im Unterschied
zur Inneren Mission - kirchlichen Institution, wird die'
Kirche an den Bereich der Sozialpolitik und Gesetzgebung
herangeführt. Auch die Neugründung der CDU wird von
manchen Christen als politische Konsequenz diakonischer
Haltung im Räume von Politik und Gesellschaft verstau
den. Gegenüber nach 1945 auch stark vorhandenen Ten
denzen zu unbedingter Abstinenz der Kirche von der
Politik fordern „die Fürsprecher einer auf Öffentlichkeit
zielenden Diakonie . . . den Ausbruch aus der der Kirche
unter der N. S.-Herrschaft aufgezwungenen Ghetto-Existenz
. Sie wehren sich gegen die Eingrenzung auf die ,nur
geistliche Hilfe' nach der Parole: ,Sorgt Ehr für den Himmel
, uns überlaßt die Erde', was zu einer .Zerreißung der
Arbeit am ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist'
führen muß" (S. 39). Den Abschluß dieseB Kapitels bildet
ein rund 30 Seiten umfassender historischer Exkurs über
den Rückgriff von Vertretern „politischer Diakonie" auf
Wiehorns Programm der Inneren Mission. Entgegen den