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Ausgabe:

1977

Spalte:

215-220

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Elliger, Walter

Titel/Untertitel:

Thomas Müntzer 1977

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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215

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 3

KIRCHENGESCHICHTE:
REFORMATIONSZEIT

Elliger, Walter: Thomas Müntzer. Leben und Werk. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht [1975]. VIII, 842 S. gr. 8°. Lw.
DM98—.

-: Außenseiter der Reformation: Thomas Müntzer. Ein Knecht Gottes
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. 123S.8° = Kleine
Vandenhoeck-Reihe 1409. Kart. DM 10,80.

Das Fehlen einer wissenschaftlichen Müntzerbiographie
ist immer wieder beklaut worden. Die frühen Versuche
von G. Th. Strobel (1795), J. F. Köhler (17!)!)) und J. K.
Seidemann (1842) w aren über eine Materialsammlung und
die Anfänge einer Quellenkritik nicht hinausgekommen.
Die einzige neuere Darstellung mit wissenschaftlichem Anspruch
von E. Gritsch (l!)(i7) ist mehr eine Einführung in
Müntzers Leben und Werk für den englischsprachigen
Raum auf der liasis der älteren Forschung. Demzufolge
kann Elligers Müntzerbiographie mit hohen Erwartungen
rechnen.

Seine Sicht Müntzers hat Elliger seit L957 durch verschiedene
Veröffentlichungen dargelegt. Vor allem in seiner
Studie von 1960 stellte er dem Verständnis Müntzers
als Sozialrevolutionär seine Interpretation vom Botenläufer
Gottes gegenüber. Diese Konzeption, daß es dem
Knecht Gottes in Wort und Tat um nichts anderes als um
die Aufrichtung der wahren apostolischen Kirche durch
eine ehristusförmige Gemeinde ging, hat Elliger in seiner
historisch-kritischen Biographie bewußt beibehalten. Bestandteil
dieser Konzeption ist die Überzeugung, Müntzers
theologischer Ansatz sei beim jungen Luther zu suchen
. Allerdings sei dieser ,Schüler' Luthers bereits „mit
der Voreingenommenheit einer eigenen, persönlichen
Fragestellung nach Wittenberg" gekommen (7).

Diese Konzept ion wird in zehn Kapiteln entfaltet, deren
erstes über Herkunft und Jugendjahre sich ausführlich
mit den schon mehrfach widerlegten Hypothesen H. Goeb-
kes auseinandersetzt. Neues Material und neue Gesichtspunkte
kann Elliger nicht beibringen. Wie schon andere
vor ihm hält er es für denkbar, daß der Münzmeister
Matthias M nutzer als Vater in Krage kommt. Spielte schon
im ersten Kapitel der Kon junkt iv eine relativ große Holle,
so prägt er das /.weite (Müntzers Entwicklung vom Absei
) In Ii seines Leipziger Studiums bis zur Berufung nach
Zw ickau) noch stärker. Das ist angesichts der Quellenlage
verständlich. Elliger nimmt an. daß Müntzer zunächst im
niederen Klerus Dienst tat. Das ..verbunt nus"' gegen Erz-
bischof Ernst bewertet er ..als einen impulsiven Akt
jugendlichen Sturmes und Dranges'" (31). Das Magisterexamen
habe Müntzer vermutlich erst in Frankfurt a. O.
abgelegt. Da Eiliger den Erwerb des Baecalaureusgrades
in sein Zeitschema nicht unterbringen kann, nimmt er an,
Müntzer habe sich diesen Titel in einem spielerischen Einfall
oder aus Hochstapelei zugelegt. Die Basis für seinen
Versuch, Müntzers innere Entwicklung nachzuzeichnen,
entnimmt Eiliger Müntzeis bekanntem Selbstzeugnis aus
dem Prager Manifest, er habe sich mehr als andere um die
Erkenntnis bemüht, wie der unüberwindliche Christenglaube
gegründet sei. Im Bewußtsein des spekulativen
Charakters seines Unterfangens rekonstruiert Elliger
Müntzers Anfragen an das gewohnheitsmäßige Christentum
zur Zeit des »Studiums und während der Tätigkeit in
Frose. Elliger nimmt an, daß Müntzer während eines
mehrmonatigen Aufenthaltes in Wittenberg (1518) das
reformatorische Glaubensverständnis an sieh selbst als
einen befreienden Durchbruch erfuhr und es bald darauf
in der Auseinandersetzung mit den Jüterboger Franzis
kauern bewährte. In Orlamünde sei er vermutlich mit der
spät mittelalterlichen Mystik in Kontakt gekommen. Die
Impulse der Leipziger Disputation ließe)) ihn in der Ben

ditzer Zeit erst recht nach dem rechten Verständnis des
christlichen Glaubens forschen, verbunden mit der Frage,
wie und wann es in der Kirche verlorengegangen sei. So
konnte Müntzer mit einer klareren Vorstellung von dem,
was der Kirche not tat, seine Predigttätigkeit in Zwickau
beginnen (drittes Kapitel). Elligers ausführliche Analysen
der Tiburtiusthesen und der Propositionen Egrans gehören
zu den Höhepunkten des Buches. Im Spiegel derTiburtius-
thesen erscheint Müntzer als konsequenter Lutheranhänger
, der auch Tauler mit den Augen Luthers gelesen hat
und der nur die Erneuerung und Verlebendigung des Glaubens
vorantreiben will. Zwei Ereignisse wirkten entscheidend
auf die Entwicklung Müntzers ein, die Begegnung
mit Storch und die Auseinandersetzung mit Egranus. Von
Storch, übelnahm Müntzer den ,,Gedanken von der unmittelbaren
Geistbegabung als der eigentlichen Quali
fikafion zur gültigen Erkenntnis und Auslegung der
Schrift " (122). Egranus versuchte er als Pseudolutheraner
und Exponent des rationalist isch-moralist ischen I lumanis-
mus zu ent larven. Dabei scheint Müntzer bereits ein eigen
geprägtes Verständnis der „Furcht Gottes" ent wickelt ZU
haben. Aul' ein Bewußtsein von ernsteren theologischen
Meinungsverschiedenheiten zu Wittenberg deutet jedoch
nichts hin. Ebensowenig läßt sich eine sozia lievolut ionäre
Aktivität feststellen. Er machte den Storehianern wohl
nur „deutlich, daß allein durch eine dem Evangelium ge
mäße Christlichkeit der Christenheit eine gerechte- äußere
Ordnung der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen"
sei (172). Auch nach seiner Flucht aus Zwickau, vor allem
bei seinem Auftreten in Prag (viertes Kapitel), verstand
er sich als Repräsentant der lutherischen Reformal ion. I m
Prager Manifest, dessen Versionen Elliger anders ordnet
als die Ausgabe von Franz (A, C, B, D). geht, es Müntzer
allein um die religiöse Erneuerung der Christenheit durch
persönliche Erfahrung des lebendigen Wortes. Ohne be
reits mit Luther in Konkurrenz treten zu wollen, formulierte
er hier erstmalig „in der Anlehnung an taulersche
Gedankengänge - und mit unter dem Einfluß Storchs -
das Kernstück seiner eigenen Gedankenwelt die entscheidende
Funktion des göttliche)) Geistes im Glaubensprozeß
auf der Basis des ordo deo et creaturis Congenitus" (208).
Für die Reinigung der ganzen Christenheit und den Auf
bau einer wahrhaft apostolischen Kirche war Müntzer
auch unterwegs, nachdem er in Prag abgewiesen worden
war (5. Kapitel: Von Prag nach Allstedt). Vor allem in
seinem Brief an Melanchthon ans der Situation nach den
Invoea vit predigten ist erkennbar, daß sein „Verhältnis ZU
Luther in eine kritische Phase zu treten beginnt" (22S).
Der Dissensus lag ..im Verständnis dessen, was denn im
Glaubensgeschehen sich vollziehe, wie man zum rechten
Glauben gelange und durch ihn Gottes und seines Willens
gewiß werde" (2:59). Dieses Anliegen verfolgt Müntzer in
seinem Allstedter Wirken (6. Kapitel) weiter, zunächst in
den liturgischen Reformen. Letzteres ist als „ein revolutionäres
Unternehmen", das ..aber... in den maßvollen
Formen einer wohlbedachten (hdnung durchgeführt" (252)
wurde, anzusehen. Ein musikgeschiehtlioher Exkurs von
Henning Frederichs über die Wort-Ton Beziehung in
Müntzers liturgischen Formularen ergänzt Elligers ausführliche
theologische Interpretation. Elliger meint,
Müntzer habe „sich vielleicht in keinem Stadium seines
Wirkens so ,sachlich' einer Aufgabe hingegeben wie bei
der Arbeit an den liturgischen Ordnungen" (257), in denen
er „keinen Hauch einer sozial- oder politisch-revolutiona
ren Propaganda verspüren läßt" (:$:{!(). Veranlaß! durch
den starken Widerhall seines Wirkens verbreitete Müntzer
sein Verständnis des reformatorischen Christentums bald
auch durch seine Druckschriften. Als die Anfeindungen
zunahmen, betonte Müntzerden fml Scheidungscharakter
der Zeit und forderte in der sogenannten Fürstenpredigt
die Erncstincr auf. sieh der notwendigen Reinigung der
Kirche zur Verfügung zu stellen. Doch zu beachten ist :