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Ausgabe:

1977

Spalte:

196-199

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sand, Alexander

Titel/Untertitel:

Das Gesetz und die Propheten 1977

Rezensent:

Merkel, Helmut

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 3

196

Ich beschränke mich hier auf eine Darstellung seiner Interpretation
von V 14-16 (115-119), um seine Lösungsvorschläge
für die oben aufgeführten Fragen wenigstens noch
anzudeuten. B. geht davon aus, daß sich Jesaja gegenüber
dem seines Synkretismus wegen ausweichend antwortenden
Ahas zum Schein auf den Boden der nichtjahwisti-
schen Kulte stellt und die Zeichenankündigung ironisch
formuliert: Es wird das Unfaßliche eintreten, daß trotz
kontrazeptiver Maßnahmen (97 f., 283) die - oder eher: die
oberste (99) - sakrale Prostituierte2 Judas schwanger
wird; man wird zwar diesem Unheilszeichen entgegenzuwirken
versuchen, indem man das Kind „Mit uns, El!"
nennt und ihm „mixture magique" (115), verflüssigte Butter
(llf., 263) und Honig, zu essen gibt; aber es wird
nichts nützen, man wird (und hier meinte Jesaja nun, wie
er es sagt) das ertraglose Land aufgeben müssen.

Im II. Teil (Le Siloe: 121-220) untersucht ß. Texte, die
über die außen- und militärpolitischen Vorstellungen Jesa-
jas Aufschluß zu geben versprechen. Aus den Namen der
beiden Jesajasöhne, Schear-Jaschub und Mäher-Schalal-
Chasch-Baz, sowie aus 30,15 schließt er, daß Jesaja nicht
zu menschlieb-militärischen Anstrengungen überhaupt,
vielmehr nur zu einer bestimmten Form der Kriegführung,
nämlich der offensiven Strategie, in Opposition stand und
dem Rückzug auf die befestigte Position der Stadt den
Vorzug gab (136-139). Die Fremdvölkerworte Jesajas
sieht er in Isolationismus und Nationalismus begründet
(157f.). Die isolationistische „Solution du rempart" (158)
hat freilich zur Voraussetzung, daß Jerusalem einer Belagerung
standzuhalten vermag, und das heißt vor allem,
daß es eine gesicherte Wasserversorgung besitzt; in dieser
Hinsicht will B. ein besonderes Engagement Jesajas beobachten
: „Siloah" 8,6 (B. übersetzt: „aqueduc" 173) sei
auf den (damals erst geplanten) Siloahtunnel zu beziehen,
somit erweise 8,6-8 Jesaja als Parteigänger, wenn nicht
als den geistigen Vater dieses unter Hiskia realisierten
Projekts (175-179); ferner meine „er, der es getan hat,
und er, der es von lang her entworfen hat" 22,11b Jesaja,
und das „es" ziele dabei auf das in V IIa genannte Wasserreservoir
(169-171)! So kann B. dann auch am Ende des
II. Teils die Übereinstimmung der legendären und der
historischen Überlieferungen über die Bedrohung Jerusalems
durch die Assyrer 701 darin erblicken, daß die
Stadt ,,ne craignit pas de braver le roi d'Assour, et de
courir le risquo d'un siege" und daß „cetto force morale
venait d'Isaie" (193).

In den „Conclusions" (221-249) versucht B., ein Gesamtbild
des Propheten Jesaja zu geben und seine Bedeutung
innerhalb der Geschichte der Prophetie zu fixieren.
Das Hauptergebnis seiner Studie sieht er in einer Formulierung
von A. Lods vorgezeichnet, wonach die Originalität
Jesajas „sur le terrain des realisations pratiques" liegt
(226); Jesaja ist für ihn der Prophet „de la reforme d'un
etat politique et religieux qu'il estimait ä reformer" (249).
6 Tabellen, 21 Exkurse, Literaturverzeichnis und Stellenregister
bilden den Abschluß.

ß. geht in diesem Buch in vielem sehr eigene Wege.
Doch erbringen von der communis opinio abweichende exegetische
Meinungen häufig wichtige Anregungen; sie nötigen
jedenfalls zu weiterer Klärung und Präzisierung. Darüber
hinaus liefert die Studie zu zahlreichen Problemen
wichtige Materialien und Überlegungen3. Für eine Diskussion
strittiger Einzelfragen ist hier kein Raum4; B.s Jesaja-
bild fordert allerdings zu einer Reihe kritischer Anfragen
heraus:

1. Daß Jesaja unter Glauben „dieses Raumgeben dem
Walten Gottes, dieses Abstehen von Selbsthilfe" (G. v.
Rad, Theol AT, II, 19654, 167) verstehe, bezeichnet B. als
eine „earicature" (225; vgl. 137 A, 104) des Propheten;
dieser vertrete vielmehr ein „vigoureux ,aide-toi, le Ciel
t'aidera' " (137.224). Aber damit wird B. Jes 7,4 9 (102
+ A 10.11; 110!); 30,1-3 (150 A74!); 30,15 (1381.!) oder

31,1.3 nicht gerecht. Hinzu kommt, daß Jesajas Verhältnis
zur Zionstheologie ungeklärt bleibt (138f.247). Schließlich
ist es historischem Verstehen abträglich, das „Abstehen
von Selbsthilfe" von vornherein als eine „vuo de-
tachee de la terre" oder gar „assez niaise" (137; vgl. noch
225) zu werten.

2. B. übersieht nicht das Wirken Jesajas als Künder
von Unheil; gleichwohl charakterisiert er ihn insgesamt
als „prophete de salut" (247f.). Er deutet ihn als Reformpropheten
, der, wenn auch „critique lucide et dur de son
pays et de sa religion", doch mit diesem seinem Land und
dieser seiner Religion nicht habe brechen wollen (245).
Hierin sind Jesajas Ankündigungen vom Ende Judas und
Jerusalems (vgl. vor allem 5,5f.; 6,11; 22,14; 28,14-22; 32,
9-14) schlechterdings nicht mehr unterzubringen.

3. Sie lassen es auch als höchst problematisch erscheinen
, bei Jesaja von einem Nationalismus zu sprechen, den
er mit der Führungsschicht Judas getoilt habe (234). B.
gründet seine These vom Nationalismus Jesajas wesentlich
auf dessen Fremdvölkerworte, in denen zum Ausdruck
komme: „Isaie n'avait pas confiance en l'etranger, et il
ne l'aimait pas" (158)! Diese Ableitung aus dem ,Fremden-
haß' trifft für Jesajas Assurworte auf keinen Fall zu
(10,5-15, auch 31,1-4 + 8a).

4. Das, was Jesaja zum Propheten macht, scheint für B.
darin zu liegen, daß er ob seiner Intelligenz und Intuition
mehr ,sah' als seine Zeitgenossen (vgl. 138.175.224.227.
230f.). Hier wäre der Frage nachzugehen, ob die historische
Erklärung prophetischen Wirkens ohne die Annahme
eines dem Propheten nicht verfügbaren, vielmehr von
außerhalb seiner hinzukommenden Impulses wirklich gelingt
.

An gewichtigeren Druckversehen sind mir aufgefallen:
162 A 25: lies ypTn, 171 A 84: lies 'Uyhem, 173: A 98 ist
ausgefallen, 283 Z. 13: lies „par".

Hamburg Hermann Barth

1 In dieser Zeitschrift besprochen von O. Bißfeldt (ThLZ 94,1960, 818f.); vgl.
ferner noch bes. die Rezension durch H. Cazelles in VT 20, 1970, 121-123.

2 Diesen Sinn hat 'calma nach B.s Auffassung im AT sicher noch Hhld 1,3; 0,8
und vor allem Spr 30,19 (42-53.100).

3 Ich nenne hier nur: die Identifizierung der Speise Immanuels (7-12, 261-263),
die Übersicht über die in der Forschung zur 'calma Jes.7,14 vertretenen Positionen
(55-77), das Problem der Wasserversorgung Jerusalems (168f., 173-183,
293-295), die Interpretation der Quellen über die Bedrohung Jerusalems durch
die Assyrer 701 (bes. 218).

4 Billige Litcraturhinweisc müssen stattdessen genügen: zu Jes. 7,14-10 vgl.
O. H. Steck, ThZ 29, 1973. 161-174; zu 22,8-14 vgl. H. Donnor, Israel unter den
Völkern, VTS XI, 196i, 1271.; zum Siloahtunnel vgl. K. M. Kenyon, Digging
up Jerusalem, 1974, 151-159, bes. 1581'.

NEUES TESTAMENT

Sand, Alexander: Das Gesetz und die Propheten. Untersuchungen
zur Theologie des Evangeliums nach Matthäus. Kegensburg:
F. Pustet 1974. XI LI, 246 S. gr. 8° = Biblische Untersuchungen,
hrsg. v. O. Kuss, 11, Kart. DM47,—.

Vor fast 50 Jahren hat E. v. Dobsehütz einen kurzen
Aufsatz veröffentlicht1, der - in Zustimmung oder Ablehnung
- wegweisend für die redaktionsgesehiebtliche Erforschung
des Matthäusevangeliums (im folgenden Mt) gebheben
ist. Seither wird die in einer fast unübersehbaren
Zahl von Untersuchungen und mit großem Engagement
geführte Diskussion durch die Alternative bestimmt: Ist
Mt als Heidenchrist anzusehen, wie zuletzt R. Walker2 -
eher zum Schaden dieser Hypothese - darzutun versuchte,
oder als Judenchrist, wofür jetzt H. Stegemann3 und J.
Schwark4 neue Argumente beigebracht haben ? Natürlich
ist die Beurteilung der einzelnen Theologumena wesentlich
von der Entscheidung dieser Grundfrage abhängig. Die
vorliegende Arbeit, eine im WS l(.)iis/(i!) von der Münche-
ner Kath.-Theol. Fakultät angenommene Habilitation* ■