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1976

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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liberal-lheologische Gesamtkonzept eines aus individueller
Verinnerlichung heraus in Gesellschaft, Kultur und Staat
wirkenden Christentums den jüdischen Daseinsraum prinzipiell
in Frage stellen mußte. — Im abschließenden Kap. V:
„Christian and Anti-Christian Anti-Semitism" untersucht Tal
einerseits in historischer Sachkontinuität zur Gesamtentwicklung
das Erstarken der radikalen rassischen, wirtschaftlichen
und politischen Spielarten des Antisemitismus im „Zweiten
Reich"' und erörtert andererseits mit großer Umsicht den
komplexen Bezichungszusammcnhang zwischen christlichem
und nicht-christlichem Antisemitismus. Seine Ergebnisse bedeuten
eine Bestätigung der Positionen, wie sie etwa E. Sterling
und S. Ettinger vertreten, und zugleich eine unerhörte
Verschärfung, indem zwischen dem Ausschluß der Juden
nach dem „Geist" und ihrem Ausschluß nach dem „Fleisch"
im rassischen Antisemitismus direkte Verbindungslinien gesehen
werden. „The racial anti-Semites, despite their
antagonism toward traditional Chrislianity, learned much
from it. and sueeeeded in producing a well-prepared syste-
matic ideology with a logic of its own that reached its
culminalion in the Third Reich" (305).

Eine Würdigung der Ergebnisse von Prof. Tals Studie
ist angesichts des Reichtums der in ihr ausgebreiteten
Beobachtungen und Analysen nur global möglich. Von großem
heuristischen Wert scheint dem Rez. zu sein, daß Tal
der Judenfrage konsequent den Wert eines Indikators beimißt
. Indem nämlich auf diese Weise Juden und Judentum
in den geistigen und realhistotischen Gesamtkontext der
Zeit eingestellt werden, wird eine einlinige Betrachtungsweise
, die immer nur am Aufspüren des Phänomens Antisemitismus
orientiert ist, vermieden. Gleichzeitig wird die
innere Struktur der damaligen Gesellschaft und der in ihr
virulenten Ideenslröme in einen viel umfassenderen und
kritischeren Bück genommen. Sieht man diesen weiten Ansatz
im Zusammenhang mit der basalen These Integration-
Identität Gleichheit-Freiheit, wird deutlich, daß der Autor
sich mitten auf den llauplschauplatz eines Kampfes begeben
hat, der in der Moderne immer wieder auszutragen
ist.

Äußerst lehrreich sind die Beobachtungen zur inneren
Entwicklung des politischen und theologischen Liberalismus.
Weitere kritische Akzente, die vor allem dem Einfließen
irrationalistischer und romanlizistischer Elemente in die
liberale protestantische Theologie gelten, wären im Zusammenhang
der Rezipierung noch anderer Denkfiguren des
Neoidealismus zu setzen (So Manfred Jacobs in seiner Hambüren
- HabiL-schrift: „Vom Liberalismus zur Dialektischen
Theologie"). Die idcologiekritische Befragung alt- und neu-
testamentlicher Wissenschaft, wie sie Tal in Kap. IV unternimmt
, ist im Blick auf die theologischen Leitbilder der
Deutschen Christen, die vielfach als vulgarisierte und radi-
kalisierte Fortführung von Ereignissen historisch-kritischer
Exegese und religionswissenschaftlicher Arbeit angesehen
werden können, von großem Interesse, zumal die Dissertation
von Carsten Nicolaisen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung
derartiger Sachverhalte erst einen Anfang darstellt
. — Besonders wichtig für den evangelischen Kirchen-
historiker ist auch die Analyse von Stoeckors Antisemitismus
. Die Argumente Tals könnten durchaus das Gespräch
über diesen Gegenstand neu in Gang bringen. Hatte etwa
Paul Massing, der den christlichen Antisemitismus der Christlich
-sozialen als „anti-jüdisch" definierte, Stoeckers Antisemitismus
vom politischen und rassischen Antisemitismus
abgesetzt — eine Sicht, die z. B. von K. Kupisch insofern
aufgenommen wurde, als er einen konservativen Frühantisemitismus
(Stoeckers) von einem radikalen Hassenantisemi-
tismus unterschied, vertritt Tal nunmehr die Ansicht, Stock-
kers und seiner Gesinnungsgenossen Antisemitismus sei als
„a complex System of llieological, biblical, pietistic and
racial molifs" zu fassen, die — eingebettet in bestimmte
soziale Rahmenvorstellungen — „contrnry to their original
intentions . . . served as an important factor in strengthening

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political and racial anti-Semitism, even including the anti-
Scmitism that rejected Chrislianity" (250.251). Tals Urteilssicht
ist also stärker funklional-wirkungsgeschichtlich akzentuiert
.

Ein wenig aus dem sorgsam und geistreich gearbeiteten
Buch heraus fällt die ideengeschichtliche Ilerleitung des
Nationalsozialismus (302f.), die, selbst wenn sie wie hier in
Abbreviaturen erfolgt, differenzierter sein müßte und zudem
von Denkvoraussetzungen abhängig zu sein scheint, denen
nicht ohne weiteres beizupflichten ist.

Dem Buch sind ein begleitendes Wort von Shmuel Ettinger
, die Faksimiles einiger Dokumente zur Geschichte des
Antisemitismus in Deutschland, ein wertvoller bibliographischer
Essay und ein Index der Namen und Sachen
beigegeben.

Leipzig Kurt Xowak

v. Balthasar, II. V.: Henri de Lubac L'oeuvre organique
d'une vie (Nouvelle Revue Theologique 108, 1976 S.33-59).

Davies, Alan T.: The Aryan Christ: A Motif in Christian
Anti-Semitism (Journal of Ecumenical Studies 12, 1975
S. 569-579).

Deblon, Andre: Les ermites de Saint Augustin ordonnes ä
Liege aux XVIle et XVIHe siecles (Augustiniana 25,

1975 S. 330-352).

Gabler, Ulrich: Der Briefwechsel des Villacher Exulanten
Adam Seenuß mit dem Zürcher Antistes Johann Breitinger
1630-1632 (Zwingliana XIV, 1975 S. 210-221).

Grotz, H. SJ: Aus dem Nachlaß des Grafen von Senffl-
Pilsach. Eine Korrespondenz zum Josephinismus (ZKTh 98,

1976 S. 9-34).

Grunsky, Hans: Jakob Böhmes Schau des Menschen (ZW 47,

1976 S. 79-100).
Kaltenbrunner, Gerd-Klaus: Joseph Görrcs (StZ 101, 1976

S. 291-304).

Keep, David J.: Zürich Theologv in a Puritan Gentleman's
Library (Zwingliana XIV, 1975 S. 22-223).

Klaus, Adalbert: Das ehemalige Franziskanergymnasium
zu Geseke 1687—1804 (Franziskanische Studien 57, 1975
S. 297-365).

Kubalek, Peler: Der Wiener Augustiner-Eremit P. Ferdinand
Hartisch 1642/43-1699 (Augustiniana 25, 1975 S. 353-387).

Oliver, Paul: Travaux recents sur les modernistes et les
modernismes (Recherches de science religieusc 64, 1976
S. 95-136).

Pietsch, Roland: Jakob Böhmes Gottesbrief (ZW 47, 1976
S. 100-112).

Poupard. P.: De Vaticnn I ä Vatican II (Nouvelle Revue
Theologique 108, 1976 S. 512-529).

Schwaiger, Georg: Die baverischen Benediktinerklöster im
19. Jahrhundert (Erbe und Auftrag 52, 1976 S. 169-179).

Wagner, Harald: Noch einmal: Frühkalholizismus (ZKTh 98,
1976 S. 52-64).

Wehr, Gerhard: Der .Philosophus teutonicus' — Jacob Böhmes
Leben und Wirken (ZW 47, 1976 S. 65-78).

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Rläser, Peter, Frank, Suso, Manns, Peter, Fahrnberger,
Gerhard, u. Hans-Joachim Schulz: Amt und Eucharistie.
Paderborn: Verlag der Bonifacius Druckerei [1973]. 255 S.
8° = Konfessionskundlichc Schriften des Johann-Adam-
Möhler-Inslituts, 10. Kart. DM 14,80.

Diese gesammelten Studien wollen die Diskussion um das
kirchliche Amt, die durch das Memorandum der ökumenischen
Universitätsinstitute zur Reform und Anerkennung
kirchlicher Ämter (Mainz 1973) erneut angestoßen wurde,
vorantreiben, aber auch kritisch vertiefen; hierzu konzentrieren
sie sich auf das Verhältnis von Amt und Eucharistie.
Sie weisen damit in die Richtung der Dokumente zu „Taufe,
Eucharistie, Amt" der Faith-and-Order-Konferenz von Accra
1974 und treffen sielt weithin mit den Thesen zu Ordination

Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 12