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Ausgabe:

1976

Spalte:

947-950

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Tal, Uriel

Titel/Untertitel:

Christians and Jews in Germany 1976

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Litcraturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 12

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Standardwerk dar, das für die Kenntnis und das Verständnis
der neueren Kirchengeschichte künftig unentbehrlich sein
dürfte!

Murburg Winfried Zelter

Tal, Uricl: Christians aiul Jews in Gcrinany. Religion,
Politics, and Ideology in the Second Reich, 1870—1914,
transl. by N. J. Jacobs. Ithaca — London: Cornell Uni-
versity Press [1975]. 359 S. 8°. Lw. £ 10,70.

Prof. Tals Studie bedarf keiner Empfehlung, Bereits die
hebräische Originalausgabe aus dem Jahre 19Ö9 fand anerkennende
Aufnahme. Allen denjenigen, die des Iwrit nicht
mächtig sind, wird es als überaus begrüßenswert erscheinen,
daß das Werk nunmehr in autorisierter englischer Übersetzung
vorliegt.

Tal hat sich in langjähriger Arbeit in eine wichtige Phase
deutscher Ideen- und jüdischer Fmanzipationsgesehichte versenkt
, die gleichzeitig die Geschichte des erstarkenden Antisemitismus
im „Zweiten Reich'' ist. In methodischer Hinsicht
wählte er einen Ansatz, den er im Anschluß am M.
Steinschneider als kultur- und ideengeschichtlich im Sinne
einer Sozialgeschichte der Ideen definiert. Es geht ihm mithin
um die Durchleuchtung der reziproken Relationen zwischen
Denken, Glauben und Handeln, zwischen Meinungen
, Ideologien, Mentalitäten und den aus ihnen erwachsenden
politischen, sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen
. Da Transformation von Ideen zu einem erheblichen
Teil über die „zweite Garnitur" erfolgt, zog Tal nicht
lediglich Zeugnisse führender Geistesgrößen heran. Neben
der exorbitanten Fülle akademischer Quellen stehen deshalb
Archivalien aus Familiensammlungen, interne Diskussionsprotokolle
gebildeter Zirkel, kleinstädtischer Presseerzeugnisse
, Statements und Memoranden von Organisationen,
geistigen Bewegungen und ähnliches. Akten staatlicher und
religiöser Institutionen gestatten Einblicke in den größeren
historischen Geschehenszusammenhang.

Eine der tragenden Thesen von Tals Studie ist, daß die
Judenfrage im Deutschland der Jahre 1870—1914 ein Barometer
für die innere Verfassung des damaligen Staates, der
Gesellschaft und der in ihnen wirkenden Kräfte überhaupt
war. Der jüdische Emanzipalionskampf, der sich im Spannungsfeld
von Integration und Identität vollzog, wies weit
über sich hinaus und erlangte exemplarische Bedeutung für
die Verwirklichung (oder Entwirklichung) der liberalen
Prinzipien Gleichheit und Freiheit. In fünf Themenkreisen
wird das Problem Integralion und Identität auf dem historischen
Hintergrund der Schaffung des „Zweiten Beiches"
und damit gleichzeitig im Zusammenhang des Erstarkens
und Ausuferns jenes spezifischen deutsch-protestantischen
Nationalgefühls dargestellt, welches das Erbe des klassischen
Liberalismus mehr und mehr entwirklichte. Das Buch
setzt mit einer Analyse der Hallung der liberalen Intellektuellen
ein, zumal deren Integrations- und Identitätsprobleme
im engsten Konnex mit der jüdischen Emanzipationsbewegung
standen: Kap. I: „The German Intellectuals and
the Dynamics of Jewish Integration and Identity". In dem
Maße, in dem die liberalen Intellektuellen sich dem werdenden
„Imperium Germanicum" unterordneten und gegenüber
Staat, Nation und Gesellschaft ein neues Pflichtbewußtsein
verinnerlichten, mußte auch ihre Haltung den
Juden gegenüber weitreichenden Veränderungen unterworfen
sein: nicht mehr Integralion der jüdischen Minorität in
eine „pluralistische Gesellschaft"', vielmehr vollständige Assimilation
an den „German spirit'. Dies war eine Konzeption,
der Th. Mommsen zu breiter publizistischer Wirkung verholten
hat. Welche Betroffenheit Mommsens bekannte Schrift
„Auch ein Wort über unser Judentum" unter den Juden
auslöste, welche sich gerade mit den progressiven Liberalen
im Kampf um die Integration des Judentums in eine aufgeklärte
liberale Kultur und Gesellschaft eins gewußt halten
, ist neuerdings der Biographie eines der engsten Freunde
Mommsens, des Allphilologen J. Bernays zu entnehmen
(Hans 1. Bach: Jacob Bernays. Ein Beitrag zur Emanzipationsgeschichte
der Juden und zur Geschichte des deutschen
Geistes im neunzehnten Jahrhundert. Tübingen 1974, 2t2f.j.
Die extrem nationalistische und romantizistische Variante
dieses Denkens wird an Treitschke und seinen antisemitischen
Gesinnungsfreunden vorgeführt. Es war, wie Tal
deutlich macht, in erheblichem Grade auch die Insuffizienz
des Neokantianismus, Subjekt und Objekt zusammenzuden-
ken und so einen wirklichen Zugang zur Realität zu finden,
welche die Denaturierung des aufklärerisch-liberalen Erbes
förderte. — Auch der Kulturkampf: Kap. II: „The Kulturkampf
and the Status of the Jews in Germany" mit sei neu
überraschenden Frontverschiebungen dient in der Analyse
von Tal als Indikator für die Position der Juden. Im Anschluß
an die bekannten Deutungen des Kulturkampfes
durch F. Seil, H. Bornkamm, H. Holborn, F. Stern
u. a. zieht Tal die Interpretationslinie (daß der Kulturkampf
auch ein Kampf religiöser und sozialer Kräfte um die Bewahrung
ihrer Unabhängigkeit und ihres l'xislenzrechts angesichts
der egalitären Tendenzen des „Kullurstaatcs" war),
bis zu den Juden aus. Am bedeutsamsten für diese wurde
wohl, daß im weiteren Fortsehreiten des Kulturkampfes
selbst progressive Liberale, die zunächst in ihm eine Kampagne
zur Erreichung größerer Freiheit für Gesellschaft und
Kultur gegenüber Religion und Kirche gesehen halten, die
Politik des Staates unterstützten, der politische und geistige
Freiheil gleichsam verordnete. — Der außerordentlich wichtigen
Rolle des konservativ-protestantischen Elements, das
gegen Ende des Jahrhunderts seinen eigenen Zugang zum
Neuen Slaat zu suchen begann und ihn in der Repristinie-
rung der Ideologie des Christlichen Slaates fand, ist Kap. III:
„The Christian State and the Jewish Citizen" gewidmet. In
dem konservativen Versuch, den Corpus-Christianum-Ge-
danken zu erneuern und ihn an die kulturelle, soziale und
politische Wirklichkeil zu adaptieren, „we have one of the
principal roots of the inveterate antagonism between the
Conservatives (and, in varving degrecs, the Proteslants as
a whole) and ihe Jews" (146) — ein Antagonismus, der
sich real etwa in der Forderung manifestierte, Juden von
öffentlichen Amtern mit nationalem Symbolwert auszuschließen
. Unter den Trägergruppen dieser Ideologie, welche
massiv antisemitische Akzente aus sich heraussetzte, ist der
„Bund der Landwirthe" besonders berücksichtigt. Er übte
eine Brückenfunktion zwischen christlichem Germanismus
und romantischem Nationalismus aus und war in seiner
spezifischen Ressentimenlhallung in der Sozialsphäre auch
sonst eminent bewußtseinsbildend. — Kap. IV: „Protestan-
tism and Judaism in Liberal Perspective" geht den Beziehungen
zwischen liberalen Protestanten und liberalen Juden
unter dem Gesichtspunkt ihrer beiderseitigen Bemühungen
nach, angesichts des Zerfalls der neokantianischeu
Wertwelt (und im weiteren Sinne von Rationalismus und
Idealismus) durch Bückwendung in die Geschichte normative
Werte zu finden sowie gleichzeitig die eigene Existenz
und ethische Mission in der Moderne zu begründen. Wechselseitige
Krilik des jeweiligen Selbstverständnisses tangierte
dabei zunächst nicht die gemeinsame Basis, die sich
methodisch als Beligionswissenscliaft und -philosophie verstand
. Mit dein Durchbruch des liberalen Protestantismus
zu einer „expliziten Ideologie" allerdings, hinter der der
Versuch stand, „lo make Christianity more palatable to the
educated classes as a religion and as a component of German
national consciousness and culture" (191) wurde im
Umfeld historisch-kritischer Exegese und religionswissenschaftlicher
Arbeit das Christentum mehr und mehr von der
„Multerreligion" gelöst bzw. bestimmte Teile des jüdischen
Erbes christlich vereinnahmt und gegen erstarrten „Talmudismus
" polemisiert. Hier brachen schwere Probleme für
die Juden und ihr Exislenzrecht auf, wie überhaupt das