Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1976

Spalte:

938-940

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Fichtenau, Heinrich

Titel/Untertitel:

Beiträge zur Mediävistik, Ausgewählte Ausätze, I: Allgemeine Geschichte 1976

Rezensent:

Haendler, Gert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

937

Audi Brett verhehlt nicht, daß die englische Kirche jener
Tage weithin dem Willen des Königs und seiner normannischen
Ratgeber unterworfen war und von normannischen
Prälaten beherrscht wurde. Er macht jedoch darauf aufmerksam
, daß diese trotz Einführung vieler Änderungen,
die in ihrem Ausmaß alle anderen Wandlungen vor der
Reformation des 16. Jhs. übertrafen, weilgehend auf der
angelsächsischen Kirchenstruktur aufbauten. Die englische
Kirche behielt ihr nationales Gepräge, wofür schon die
— freilich nicht unbegrenzte — Durchsetzung der Primatial-
ansprüche des Erzbistums Canterbury sorgte, über England
hinausgreifend, unterwarf Canterbury selbst Wales weithin
seinem Einfluß, während ähnliche Tendenzen bezüglich Irland
scheiterten. Das Erzbistum York versuchte sich durch
Ausdehnung seines Einflußbereiches auf Schottland und die
vorgelagerte Inselwelt einschließlich der Orkney-Inseln der
drückenden Überlegenheit Canterburys zu erwehren und
eine Umklammerung zwischen diesem und St. Andrews zu
verhindern, vermochte seine Ansprüche letztlich aber nicht
durchzusetzen. Der Erzbischof von Canterbury verstand sich
nicht nur als Überhirt seiner Erzdiözese, sondern als Primas
von England, hielt deshalb auch Konzilien mit primatialcm
Gepräge ab und besaß traditionell die Rechte eines päpstlichen
Legaten für den englischen Bereich.

Die nachgregorianischen Päpste indes waren bestrebt, auch
hier die primatialc Gewalt einzugrenzen. Eigene päpstliche
Legaten wurden nunmehr auf die britische Insel entsandt,
jedoch sie durften entweder gar nicht deren Boden betreten
oder erreichten doch, obwohl sie vereinzelt unter ihrer Leitung
stehende Konzilien einberiefen, ihr eigentliches Ziel
nicht. Das kanonische Recht gewann zwar allmählich größeren
Einfluß auf die Gestaltung des kirchlichen Lebens in
England, wurde aber unter Heinrich 1. noch nicht bestimmend
. Noch effektiver als die königliche Gegenwirkung gegen
eine tatsächliche Kontrolle der englischen Kirche durch
den Papst erwies sich die große Entfernung von Rom und
die I iikenntnis des Papstes über viele Eigenarten und
daraus erwachsende Begebenheiten in den englischen Diözesen
. Der päpstliche Einfluß wuchs aber dadurch, daß
viele englische Prälaten, im ersten Fall auch die beiden Erz-
bisrhofe, der Kurie ihre Rechtsstreitigkeiten vortrugen oder
Exemtionen erstrebten, um sich von der drückenden Last
der Verpflichtungen gegenüber übergeordneten Prälaten, die
zugleich ihre Feudalherren waren, zu befreien.

In den folgenden Kapiteln untersucht Brett mit großer
Sorgfalt den damaligen Charakter der hohen kirchlichen
Ämter und das Selbstverständnis ihrer Inhaber. Obgleich er
sichtlich bemüht ist, die geistlichen und spezifischen kirchlichen
Verpflichtungen des hohen Klerus hervorzuheben,
ist sein Ergebnis recht mager. Es kann kein Zweifel darüber
bestehen, daß nicht die pastoralen Bemühungen, sondern
die durch ihren Standort innerhalb der Feudalpyramide gegebenen
Aufgaben und Interessen im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit
standen. Wer sich also Einblick in die Auswirkungen
der feudalen Gesellschaftsordnung des Mittelalters auf das
kirchliche Leben verschaffen will, der kann dies gerade
auch an Hand dieses Buches tun, so gewiß er dabei die
mancherlei Besonderheiten der Situation in England kurz
nach der normannischen Eroberung berücksichtigen muß.
Vor allem ist dabei freilich zu beachten, daß diese Kirche ein
noch viel stärkeres nationalkirchliches Gepräge trug als etwa
die großen konlincnlalcurnpaischeii Kirchen des 12. und
13. .Iiis. Das zeigte sich nicht zuletzt in dem nur allmählich
vor allem durch die Bischöfe zurückgedrängten Eigonkir-
chenwesen mit seinen sehr ungünstigen Auswirkungen auf
das Leben in den einzelnen Pfarreien sowie Auswahl und
geistigen Entwicklungsstand der Inhaber bzw. Verwalter der
Parochien. Vor allem gelingt es Brett vortrefflich, die ständischen
Implikationen sämtlicher höheren kirchlichen Ämter
und das verwirrende Gefüge feudaler Abhängigkeiten und
Obligationen zu klären. Wir stoßen auf Bedingungen, unter
denen sich die spezifisch kirchlichen Aufgaben erst Schritt-

938

weise von den Verpflichtungen gegenüber dem König und
seinen weltlichen Vasallen zu lösen begannen.

Sehr interessant sind Bretts Darlegungen über die Einkünfte
und Besitztümer der einzelnen Prälaten von den
Erzbischöfen über die Bischöfe und Archidiakonen bis zu
den Mitgliedern der Domkapitel. Es wird deutlich, wie auch
Prälaten niederer Ränge auf Grund ihres Landbesitzes und
ihrer mancherlei finanziellen Einkünfte, die großenteils freilich
einen nur halhlcgalen Raub darstellten, eine gewisse
Unabhängigkeit von ihren kirchlichen (und weltlichen;
Oheren zäh und nicht erfolglos verteidigten; dazu trugen
auch ihre Standesherkunft und ihre Vcrwandtschaftsbezie-
hungen bei, wenn sie auch, in der Regel nicht dem höchsten
Adel entstammend, von der königlichen Zentralgcwalt
abhängiger waren als ihre säkularen Standesgenossen. Mit
Interesse liest man auch die Informationen über den Charakter
des säkularen und klerikalen Teils der bischöflichen
Mitarbeiter und Beamten, wobei zugleich die personellen
und sachlichen Verbindungen letzterer zu den Domkapitel.i
und dem aufsteigenden Archidiakonat aufgezeigt werden.
Willkommen sind weiter die Angaben über die von Erzbischöfen
, Bischöfen, Archidiakonen und auch Dekanen abgehaltenen
Gerichtshöfe und die Mitwirkung der Bischöfe
an säkularen Rechtsfindungen, die sich in ihrer Verfahrensweise
vor der Durchsetzung des kanonischen Rechts kaum
von der kirchlicher Gerichte unterschieden. Aufschlußreich
sind auch Bretts Hinweise darauf, daß neue Gemeinden in
der Regel nicht aus geistlichen, sondern aus ökonomischen
bzw. Erwerbsgründen geschaffen wurden, was bei vielen
„Mutterkirchen" die berechtigte Sorge hervorrief, ihnen
werde die materielle Grundlage entzogen, führte doch jede
Schaffung einer neuen Pfarrei zu einer Teilung der alten
und somit auch zu einer Teilung der Benefizien. Brett arbeitet
schließlich heraus, daß die Bischöfe sowohl Aussauger
und Bedrücker von Klöstern, deren teilweise weiter Landbesitz
ihren eigenen Grundbesitz oft zerstückelte, als auch
deren Beschützer gegenüber weltlichen Grundherren waren.
Immerhin war vor 1200 in England ein Viertel aller Pfarreien
Klöstern unterstellt, und manche Bischöfe förderten
die Benediktiner, Zisterzienser und Augustiner ihrer Diözese
, letztere besonders, weil sie sich auch pastoralen Aufgaben
widmeten.

Wir benötigen derartige Untersuchungen in großer Zald.
um ein in jeder Hinsicht reales Bild von den kirchlichen
Strukturen des Mittelalters zu gewinnen, und danken deshalb
dem Vf. herzlich für seine in ihrer Sachlichkeit durchweg
überzeugenden Darlegungen.

Rostock Gert Wendelhorn

Fichtenau, Heinrich: Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte
Aufsätze. I: Allgemeine Geschichte. Stuttgart: Ilierseniann
1975. VIII, 309 S. gr. 8°. Lw. DM 96,-.

Im Vorwort nennt der Wiener Historiker II. Fichtenau
zwei Zentren, um die sich die zehn Aufsätze des Bandes
gliedern lassen: „Das erste umfaßt jene moderierte Form
der 'Geistesgeschichte', die nicht den Ideen kleiner und
kleinster Eliten nachspürt, sondern dein Denken und Wähnen
breiterer Schichten. Zweitens versucht die Auswahl auch
auf weniger beachteten Gebieten den Verbindungen zwischen
einem kleinen Land namens Österreich und der europäischen
Geschichte nachzugehen." Beitrag 1 handelt „Vom
Verständnis der römischen Geschichte bei deutschen Chronisten
des Mittelalters" (S. 1—23). Die mythologischen Berichte
von den Anfängen Roms (Aneas, Bomulus) fanden
Interesse, mit Konsuln oder Volkslribunen wußte man
weniger anzufangen, zu Cäsar bestand ein Zugang. Die
Kaiser seit Augustus wurden von christlichen Voraussetzungen
her gesehen, doch konnte auch von Romulus gesagt
werden, daß zu seiner Zeit der Prophet Jesaja wirkte. Vier

Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 12