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Ausgabe:

1976

Spalte:

786-787

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Boos-Nünning, Ursula

Titel/Untertitel:

Dimensionen der Religiosität 1976

Rezensent:

Kretzschmar, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 10

786

rend und nach der Französischen Revolution von 1789 im
Hinblick auf die unterschiedlichen sozialen Gruppierungen
und deren Interessen beschrieben, wobei, wie auch in
den folgenden Kapiteln, insbesondere der Einfluß institutioneller
Faktoren der Kirche ins Auge gefaßt wird.
Das 2. Kapitel behandelt dann „die Kirche und die französische
Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts".

Der 2. Teil untersucht „die Verhältnisse in der dritten
Welt", und zwar im 3. Kapitel „die kubanische Revolution
", in Kapitel 4 „die Kirche und die Revolution in Lateinamerika
. Der Fall Camilo Torres", im 5. Kapitel „die
Kirche und der Vietnam-Konflikt" und schließlich in
Kapitel 6 „die revolutionären Bewegungen in Südafrika
".

Im 3. Teil, „Anfänge einer neuen Problematik", wird
zunächst im Kapitel 7 „die Haltung der Kirche während
der Mai-Ereignisse 1968 in Frankreich" dargestellt. Das
abschließende 8. Kapitel verallgemeinert die gewonnenen
Erkenntnisse unter dem Thema ..Religion und Revolution
der politischen Beziehungen".

Unzweifelhaft vermag der Blick auf die soziale Herkunft
des oberen und unteren Klerus sowie die soziale
Schichtung der Gläubigen im Zusammenhang der jeweiligen
politischen und kulturellen Traditionen des Landes
außerordentlich erhellend zu wirken. Es zeigt sich
sehr deutlich, daß die religiöse Sprache Ausdruck bestimmter
sozialer Interessen ist und zumeist der Legitimation
der Herrschenden dient. „Jede symbolische Auslegung
trägt spezifische Züge, die aus ihrer Position in
einer geschichteten Gesellschaft resultieren, und die
Theologie ist immer sozial gefärbt" (S. 292). Die unterschiedlichen
sozialen und politischen Interessen der in
der Kirche vereinigten Bevölkerungsgruppen stellen die
Hierarchie vor außerordentlich schwierige Probleme, die
selten im Sinne eines echten gesellschaftlichen Fortschritts
gelöst werden. Mit einem gewissen Engagement
wird herausgearbeitet, daß es ungenügend ist, der gesellschaftlichen
Wandlung und Erneuerung nur theologisch
und religiös Rechnung zu tragen.

„Halten wir zunächst fest, daß die Mehrheit der neuen
Modelle — Säkularisierungstheologie, Gott-ist-tot-Theo-
logie, Befreiungstheologie sowie bestimmte Formen der
politischen Theologie — in direkter Abhängigkeit von
den Systemen verharren, von denen sie sich unterscheiden
wollen. Es hat oft den Anschein, daß mit herkömmlichen
Deutungen .krumme Geschäfte gemacht' werden,
um sie in einem neuen Gewand zu präsentieren"
(309/310). „Um es ganz deutlich zu sagen, es genügt nicht,
daß die Erben der anerkannten Kultur diese in Frage
stellen, in .Kommunen' leben usw., damit das Herrschaftsverhältnis
abgeschafft wird, das immer noch die
Beziehung des Arbeiters zu dieser Art von Theorie und
Praxis kennzeichnet" (S. 312).

„Sind nicht .Theologen, die im Namen der Revolution'
sprechen, viel notwendiger als eine Theologie der Revolution
, die über Entwicklungen befindet, die sich auch
ohne ihr Zutun oder gar gegen ihre Absicht vollziehen
werden" (S. 314).

Nachdrücklich wird herausgestellt, daß eine Neugestaltung
der Lehre allein nicht genügt, sondern daß sie
von institutionellen Veränderungen der Kirche begleitet
sein muß. Das Buch schließt daher mit den Sätzen: „Die
institutionelle Praxis besitzt ein beträchtliches Eigengewicht
, wie die von uns untersuchten Fälle gezeigt haben.
Es besteht kein Zweifel daran, daß der Katholizismus
dadurch schwer behindert wurde. Die Veränderung der
Institutionen gehört daher zu den unabdingbaren Voraussetzungen
. Dies ist der Grund, warum diejenigen, die
sich mit der in diesem Buch gestellten Frage beschäftigen
und eine größere Kongruenz der Botschaft Jesu
Christi und der Identität der unterdrückten gesellschaftlichen
Gruppen wünschen, weder um diese Analyse herumkommen
noch auf eine dauerhafte doppelte Aktion

verzichten können, die sich sowohl auf die religiöse Lehre
als auch auf den Institutionalisierungsmodus bezieht"
(S. 314/315).

Auch der evangelische Theologe, der über die unterschiedlichen
Klassenlinien nachdenkt, die durch Theologie
und Kirche gehen, empfängt durch diese Untersuchung
wichtigeAnregungen. Denn unzweifelhaft haben die
Verfasser recht, wenn sie davon ausgehen, daß gerade in
den von ihnen untersuchten Abschnitten grundlegender
gesellschaftlicher Wandlungen die oft sehr verdeckten
sozialen Interessen und Motive, die hinter theologischer
Lehre und kirchlichen Aktivitäten stehen, sich besonders
lehrreich studieren lassen. Das Buch kann und will keine
Lösungen anbieten, aber es schärft den Blick für „den
Einfluß der gesellschaftlichen Zustände auf das kirchliche
Leben" (Paul Drews, 1906).

Berlin Hans-Hlnrich Jenssen

Boos-Nünning, Ursula: Dimensionen der Religiosität.

Zur Operationalisierung und Messung religiöser Einstellungen
. München: Kaiser; Mainz: Matthias-Grünewald
-Verlag [1972]. 198 S. 8°.

Das ohne Verschulden des Rez. erst jetzt anzuzeigende
Buch bildet den Abschluß eines Untersuchungsprojektes
zum Themenkreis „Religion in der Industriegesellschaft
". Die Autorin versucht, auf der Grundlage einer
soziologisch brauchbaren Definition Religiosität zu ope-
rationalisieren und zu messen. Nachdem Problemstellung
und Methode der Untersuchung dargestellt sind,
widmet sich Boos-Nünning theoretischen Vorüberlegungen
. Sie erweist sich hier als umsichtig und kenntnisreich
, selbst wenn man immer wieder sehen muß, daß gerade
auf diesem theoretischen Felde Meinung gegen
Meinung steht und Pro und Kontra behutsam beurteilt
werden müssen.

In einem zweiten Teil berichtet die Autorin über die
empirischen Ergebnisse einer Untersuchung, die das Ziel
verfolgte, die religiösen Einstellungen und Verhaltensformen
der Menschen im Ruhrgebiet zu analysieren, zumal
sich in diesem hochindustrialisierten Raum der
Wandel religiöser Formen am leichtesten verfolgen läßt.
Für den Soziologen wird damit zugleich die Grundlage
geschaffen, um begründete futurische Aussagen über Religion
und Kirche zu wagen. Die Erhebung und Auswertung
dieser sich auf religiöse Glaubensformen beziehenden
Untersuchung erfolgte im Institut für kirchliche Sozialforschung
des Bistums Essen, womit zugleich der
konfessionsbestimmte Charakter der Arbeit ausgesprochen
ist.

Boos-Nünning schränkt freilich, und das wird immer
wieder deutlich, ihre Untersuchung nicht nur auf eine institutionell
begründete und sanktionierte Kirchlichkeit
ein, sondern versucht eine religiöse Grundeinstellung
der Menschen zu erfassen und auch zu zeigen, „wieweit
äußeres Kirchgangsverhalten (Gottesdienstbesuch, Kommunionempfang
etc.) und religiöse Haltung sich bedingen
, inwieweit also von einem Nachlassen des Gottesdienstbesuchesauf
eine Verringerung der Religiosität geschlossen
werden kann und darf" (S. 11). Deshalb geht
sie das komplexe Thema im Blick auf die gestellten Fragen
in sechs Dimensionen an: L Die ritualistische D. (religiöse
Praxis); 2. Die ideologische D. (religiöser Glaube);
3. Die intellektuelle D. (religiöses Wissen) j 4. Die D. der
religiösen Erfahrung; 5. Die D. der Konsequenzen aus religiösen
Überzeugungen und 6. Die Bindung an die
Pfarrgemeinde.

Die Einzelergebnisse sind außerordentlich aufschlußreich
. Generell läßt sich sagen, daß auch im römischen
Katholizismus die Diskrepanz zwischen einer „doktrinären
Orthodoxie" und dem Glauben der Gemeindeglieder
immer größer geworden ist. Der berühmt-berüchtigte