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Ausgabe:

1976

Spalte:

727-731

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Politik und Konfession : die Reformation in Deutschland 1976

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 10

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den wir neue Einsichten exegetischer und bibeltheologischer
Art ernten, wie immer, wenn man die Bibel von
einer neuen Fragestellung aus studiert. Zweitens werden
wir stärker als die Theologengeneration vor uns sehen,
daß das Wort der Bibel nicht so vernunftwidrig und pa-
radoxal ist, wie man sich gern vorstellt, wenn man den
ersten Glaubensartikel von der Schöpfung beiseite geschoben
hat. Die Erfahrung und die Erlebnisse des Menschen
zeigen in dieselbe Richtung, die auch die biblischen
Texte bezeugen und worauf sie hinweisen wollen.

Das bedeutet nun nicht, daß die menschliche Haltung
sich als „natürlich" zeigen wird, wenn man mit „natürlich
" dasselbe wie „selbstverständlich" oder „spontan
hervorwachsend" meint. Der Dienst, die Stellung als Pfleger
dessen, was unter uns ist, ist nie in diesem Sinne
natürlich, obgleich die Vernunft klar sieht, daß diese dienende
Haltung die einzig richtige, ja die auch für mich
selbst einzig kluge Haltung ist (vgl. Mk 10,42-45). Jesus,
der in der Predigt des Evangeliums „gemalt" wird, ist
der einzige Mensch, der im strengsten Sinn natürlich und
gemäß dem Schöpfungswillen Gottes lebt, und doch ist
er ein „Skandalon", weil wir, die wir dieses Bild des
wahren Menschen im Evangelium entgegennehmen,
nicht gemäß diesem Schöpfungswillen leben, nicht
menschlich sind.

In der Begegnung zwischen Christus und uns ist e r
menschlich, wir sind es nicht. Er kann es sein, weil Gott
in ihm wohnt und die Destruktion besiegt. Das hat tiefe
Implikationen für unsere Frage, „das Personsein
Gottes". Wir können diese Implikationen in sechs Thesen
zusammenfassen:

1. Gott wirkt durch einen Menschen, der auf unsrer
eigenen menschlichen Strecke zwischen Geburt und Tod
sich bewegt und dessen Leben den endgültigen Sieg über
die Destruktion bedeutet. Er gibt uns Menschlichkeit ,wir
nehmen unsre Menschlichkeit entgegen.

2. Mit dieser Gabe von Menschlichkeit werden wir zugleich
als Diener eingesetzt. Die Umwelt ist unser Arbeitsfeld
; könnten wir dort schlicht menschlich als Diener
leben, würden wir gerade dadurch unsere Aufgabe
als „Bild Gottes" verwirklichen.

3. Gott ist Schöpfer und will das gesunde Leben. Daß
es Menschen gibt, ist das entscheidende Moment seines
Schöpfungswerkes: der Mensch ist Mensch nur in seiner
Fürsorge und Pflege des Geschaffenen. Unser Personsein
und Gottes Personsein hängen zusammen.

4. In einer Welt, wo gegen Gott die Destruktion arbeitet
, kann die volle Menschlichkeit (= der Dienst) nur in
einer individuellen Katastrophe enden. Golgatha ist das
radikale Ja zum Dienst (= zur Menschlichkeit) und darin
Sieg über die Destruktion. Die Auferstehung am dritten
Tag bedeutet das Auswandern dieses Sieges in die
Welt. In der Welt der Destruktion wird nur durch das
Evangelium Menschlichkeit gewonnen, im Glauben,
also im Ja zu dem „Bild Gottes", das jetzt durch die Predigt
geschenkt wird.

5. Die Predigt ist ihrem Wesen nach eine Erzählung,
in der von einem richtigen Menschen berichtet wird. Die
Sprache der Predigt muß naiv und anthropomorph sein.
Gott als Person und wir als Personen können keine andere
Sprache für unsere Begegnung benutzen.

6. Das Wunder besteht nicht darin, daß Gott als Mensch
uns begegnet. Er i s t menschlich. Das Wunder besteht
darin, daß er in die Destruktion hineingehen will und
daß er sich der Destruktion aussetzen will. Daß er dieses
in Jesus Christus für uns getan hat, das ist Evan-
gelion. Die individuelle Katastrophe der Kreuzigung
Jesu ist Sieg und Gesundheit für die Menschheit.

* Vorlesung in der Universität Greifswald am 8. Okt. 1974.

ALLGEMEINES

Kupisch, Karl: Kirchengeschichte. I: Von den Anfängen
bis zu Karl dem Großen. II: Das christliche Europa.
Größe und Verfall des Sacrum Imperium. III: Politik
und Konfession. Die Reformation in Deutschland.
Stuttgart: Kohlhammer [1973/74]. 157 S., 157 S., 168 S.
8° = Urban-Taschenbücher, Reihe 80, Bd. 168-170. Je
DM 8,-.

Abrisse der gesamten Kirchengeschichte (KG) in allgemeinverständlicher
, aber zuverlässiger und solider Form
können immer mit einem interessierten und aufnahmebereiten
Leserkreis rechnen, zumal, wenn sie zu günstigem
Preis in Taschenbuchform angeboten werden. Karl
Kupisch, emeritierter Historiker an der Kirchlichen
"Hochschule in (West-)Berlin, der zugleich als Honorarprofessor
für allgemeine Religions- und Geistesgeschichte
an der dortigen Technischen Universität wirkte,
scheint für diese Aufgabe geradezu prädestiniert zu sein,
hört man doch selbst aus der Ferne das Lob seiner pak-
kenden Vortragsart. In einer Zeit verbreiteter Geschichtsverdrossenheit
will Ku. aus der Erkenntnis, daß
nur geistloses Sein keine Geschichte besitzt (I, 7), bei seinen
Lesern ein neues waches Interesse für den unablässigen
Strom der Geschichte wecken. Er will, da er sich an
ein weiteres Publikum wendet, bewußt Geschichte erzählen
. Das ist ihm, aufs Ganze gesehen, vorzüglich gelungen
. Fast auf jeder Seite der vorliegenden drei ersten
Bände findet man packende und vortrefflich analysierende
Schilderungen geschichtlicher Vorgänge und berühmter
Persönlichkeiten. Die KG ist hier bewußt in die
allgemeine Geschichte eingebettet und wird auf dem Hintergrund
dieser gedeutet, betrachtet doch Ku. ihre Abhebung
von der Profangeschichte als klerikale Anmaßung
(I, 9). Das gibt seiner Darstellung ein recht nüchternes,
realistisches und auch kritisches Gepräge. Vorbildlich
scheint mir bei Ku. die Dialektik von Sachlichkeit und
Parteilichkeit, von Objektivität und leidenschaftlichem
Engagement gewahrt zu sein. Keine Phase der KG wird
leichtfertig disqualifiziert, bekennt sich doch Ku. in gewissem
Maße zu Rankes bekanntem Wort, jede Epoche
sei unmittelbar zu Gott. Noch näher aber liegt ihm Luthers
Sentenz, es mische sich allemal Mäusedreck unter
den Pfeffer (11,8). So ist ihm die KG unerläßliche Korrektur
der Theologie; sie mahnt die Christenheit eindringlich
, der Erde treu zu bleiben, „auf der Kirche als Frucht
der evangelischen Botschaft allein geschieht" (I, 9).

Dieses Herangehen an die KG bewährt sich im allgemeinen
. Selbst die Motive der mittelalterlichen Kreuzzüge
werden sachlich herausgearbeitet. Das mildert freilich
nicht das abschließende Urteil, die Kreuzzüge seien
letztlich heidnischen Ursprungs, da nicht der am Kreuz
die Menschheit erlösende Weltenheiland, sondern ein
heldischer Himmelskönig, der seine Gefolgsleute zu den
Waffen rufe, ihr Vorbild gewesen sei. „Das Zeitalter der
Kreuzzüge brachte die archaische Welt vollends zum Einsturz
, indem sie deren politische Religiosität durch die
blutverschmierten Heldentaten der Kreuzritter ad absurdum
führte" (II, 74). Auch das Werk Luthers wird
realistisch auf dem Hintergrund des politischen Machtkalküls
des 16. Jhs. gedeutet, ohne seine theologische Motivation
kurzschlüssig zu leugnen. Es ist Kupischs Anliegen
, den „Nationalheros Luther" ebenso zu entmythologisieren
wie den folgenden Luther der Luther-Renaissance
, der durch Trennung von allen historischen Bezügen
zum theologisch mumifizierten Luther (III, 7—8) geworden
sei. Ku. durchleuchtet die politischen Implika-