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1976

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Kirchen- und Konfessionskunde

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Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 1

50

Frei, Hans W.: The Eclipse ol Biblical Narrative. A Study
in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics.
New Häven — London: Yale University Press 1974. IX,
355 S. gr. 8°. Lw. £ 7,50.
Das Buch untersucht die neuzeitliche Hermeneutik,
um vor dem Irrweg zu warnen, der in ihr beschritten
worden ist. Vf. stellt es unter die These: Ein realistisches
oder geschichtsähnliehes (obgleich nicht notwendig
historisches) Element ist Grundzug vieler biblischer
Erzählungen, die in das Werden des christlichen
Glaubens eingingen. Aber seit das vorkritische —
analytische oder auslegende — Verfahren, mit dem es
herausgelöst wurde, in der Auffassung der meisten
Aualeger unwiderruflich zusammengebrochen war, geriet
dieser besondere realistische Oharakterzug schließlich
in Vergessenheit.

Der Weg dieses Zusammenbruchs wird im einzelnen
nachgezeichnet. In der Reformationszeit liegen Text
und Sinn noch ineinander. Figurale und typologische
Auslegung helfen, die buchstäblich verstandenen Einzeltexte
miteinander und mit der Zeit des Auslegers in
Beziehung zu setzen. Die, erzählende (narrative) Struktur
des Textes bildet somit das Rückgrat des Auslegungsvorganges
; eine hinter der Erzählung liegende
eigentliche Bedeutung braucht nicht gesucht zu werden.
Die Bedeutung liegt im Erzählen selbst.

Dies änderte sich mit dem Auftauchen der neuen
geistigen Bewegung des voraufklärerischen und aufgeklärten
Denkens. Spinoza ist der erste Kronzeuge
dafür, daß die biblische Erzählung und ihre Bedeutung
(*. B. „wahre Tugend") logisch auseinandertreten.
Aber auch bei einem christlichen Denker wie Coccejus
bahnt sich eine Differenzierung an, indem die Heilsgeschichte
zum beherrschenden Rahmen wird, innerhalb
dessen die biblische Erzählung verblaßt.

Im 18. Jahrhundert kommt dieser Prozeß der
Polarisierung auf dem Gebiet der Hermeneutik in
Gang. Die einen kämpfen heftig für die Identität
von Wortsinn und historischer Verläßlichkeit der
biblischen Erzählungen; die andern weisen auf die
historische Begrenztheit der biblischen Schriftsteller
hin. Die verschiedenartigen Positionen, die in diesem
Kampf bezogen wurden, veranschaulicht Vf. an dem
Deisten Anthony Collins und seinem konservativen
Widersacher Thomas Sherlock, an den Hallensern
Sigmund Jakob Baumgarten, Christian Wolff und
Johann Salomo Semler, an Johann Albrecht Bengel
und Johann Gottfried Herder. Überall werden Verbindungen
zum sonstigen theologischen, philosophischen
und literarischen Leben aufgewiesen.

Die Untersuchung gipfelt in einer Analyse der
Hermeneutik Schleiermachers und Hegels. Obwohl Vf.
ihren Abstand von den Aufklärern sieht, kommt er
doch zu dem Schluß, daß die idealistische und romantische
Umwälzung in der Würdigung erzählender
Texte nur die vorausgehenden Tendenzen verstärkt hat.
P»e Bedeutung der biblischen Erzählung liegt nicht
in ihrer erzählenden Struktur selbst, sondern im Bewußtsein
, das sich darin ausdrückt. Hegel löste das
realistische Wechselverhältnis von Person und Ereignis
der biblischen Geschichte in der Geschichte des Geistes
auf. Schleiermacher verengt das Schema noch mehr,
indem er die Erzählungen der Evangelien auf das
Selbstbewußtsein Jesu zurückschneidet: „Der Text
selbst, nicht als Ausdruck des Selbstbewußtseins oder
als .Wortgeschehen', sondern einfach als die formale
erzählerische Gestalt einer Geschichte kann nicht die
Bedeutung oder die zugrundeliegende Sache der Erzählung
«ein."

Wer ist dann der „Text selbst" oder die „formale
erzählerische Gestalt" ? Vf. gibt dafür nur Andeutungen
. Es ist die Einheit von Erzähltem und Erzählung;
z. B. wird der Messiastitel Jesu nicht nur eingeführt,
sondern es wird sein Zustandekommen geschildert.

Einerseits ist es verdienstvoll, daß Vf. die Gefahr
der Verkürzung unnachsichtig bei allen Theologen, die
er behandelt, ans Licht hebt. Es wird dabei viel Primär -
und Sekundärliteratur herangezogen, so daß für den
amerikanischen Leser ein differenziertes Bild europäischer
Theologiegeschichte entsteht.

Andererseits bleibt die systematische Position des
Vf. s, welche den Maßstab seiner Kritik bildet, zu sehr
im Hintergrund, so daß im Leser Zweifel am Recht
dieser Kritik erwachen. Ist der „Text" als Einheit
von Erzählung und Erzähltem nicht eben doch ein
Produkt seines Verfassers, der das Erzählte durch die
Erzählung vermittelt ? Gerade die Kritik an Schleiermacher
, der durch die Verschränkung von Hermeneutik,
Dialektik und Ethik sehr wohl die Untiefen eines weltlosen
Individualismus zu meiden wußte, verliert dadurch
an Gewicht.

Indessen hat Vf. ein Buch angekündigt, in dem die
hermeneutische Frage im ehristologischen Bereich
konkretisiert wird. Vielleicht wird dort der Hunger
gestillt, den das vorliegende Buch erzeugt hat.

Oldenburg i. O. Rolf Schäfer

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

Waidenfels, Hans: Offenbarung. Das Zweite Vatikanische
Konzil auf dem Hintergrund der neueren Theologie.
München: Hueber [1969]. X, 328 S. gr. 8" = Beiträge
zur ökumenischen Theologie, hrsg. von H. Fries, 3.
DM 29,80.

Auch in der katholischen Theologie bezeichnet
Offenbarung nicht mehr die übernatürliche Mitteilung
von Lehrwahrheiten, von veritates revclatae. Schon das
Erste Vatikanische Konzil hatte das Wesen der Offenbarung
als Selbstoffenbarung Gottes gekennzeichnet
(Denz. 3004: Sc ipsum revelavit et aeterna voluntatis
suae decreta), wie H. Fries mit Recht hervorgehoben
hat (LThK7, 1112). Die Gewohnheit der Schulthcologie,
Offenbarung als übernatürliche Mitteilung von Lehrwahrheiten
zu verstehen, ist jedoch erst sehr langsam
durch theologische Entwicklungen überwunden worden,
die ihren Ausdruck in der dogmatischen Konstitution
„Dei Verbum" im Zweiten Vatikanischen Konzil
gefunden haben. Das Buch von Waidenfels bietet
nicht nur eine breit dokumentierte theologiegeschichtliche
Darstellung dieser Entwicklung, sondern in
seinem zweiten Teil auch eine systematische Erörterung
des Offenbarungsbegriffs, die die Aussagen des Konzils
zu den gegenwärtigen Diskussionen auf evangelischer
wie auf katholischer Seite in Beziehung setzt.

Der erste Teil greift auf die Neuansätze der Tübinger
Schule zum Offenbarungsbegriff zurück. Er zeigt, wie
bei J. S. Drey die Idee der Offenbarung ihrer Erscheinung
im Prozeß einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts
gegenübersteht, während J. A. Möhler
ähnlich wie Schleiermacher von der Vorordnung des
religiösen Lebens vor die Erkenntnis ausgeht, aber
in wachsendem Maße die äußere, geschichtliche Vermittlung
der Offenbarung betont, entscheidend im
Hinblick auf die Inkarnation. Sodann wird der Beitrag
der französisch-sprachigen Theologie zu einer Vertiefung
des Offenbarungsverständnisses erörtert, wobei