Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1976

Titel/Untertitel:

Geschichte christlicher Kunst

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

691

Eine genauere Untersuchung über die Beziehungen
Guardinis zur Evangelischen Theologie und Kirche,
von der W. am Rande spricht, steht noch aus. Das
Literaturverzeichnis auf S. 221 — 233 bietet dafür eine
Quellenangabe.

Berlin Friedrich Winter

GESCHICHTE CHRISTLICHER KUNST

(■ermann, Georg: Neugotik. Geschichte ihrer Architoktur-
theorie. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt [1974].
248 S. m. 98 Abb. a. Taf. 4°.

Die Habilitationsschrift des Basler Kunsthistorikers
von 1971 erschien zuerst in englischer Übersetzung
1972 in London und 1973 in Cambridge (Mass.). Sie
stellt einen gewichtigen und in seiner Art einmaligen
Beitrag zur Erforschung der Neugotik in Westeuropa
dar. Die Darbietung und Interpretation umfangreichen
Quellenmaterials führt zu einer vertieften Würdigung
auch der gebauten Neugotik, die sich weit entfernt von
Schlagwörtern wie „Gotik ohne Gott' (so der Titel des
1952 erschienenen Buches von Alfred Kamphausen).
Gerade dem Theologen, der der kirchlichen Baukunst
des 19. Jhs. im Unterschied zur Theologiegeschichte
meist nur geringe Bedeutung beimißt, dürfte bei der
Lektüre von Germanns Buch aufgehen, wieviel die
neugotische Bewegung in England und auf dem europaischen
Festland mit dein christlichen Gottesglauben
und seiner Reaktivierung im 19. Jh. zu tun hat. Er
wird zugleich erfahren, wie diesem christliehen Hauptanliegen
vorausgehend und begleitend andere weltanschauliche
, künstlerische und nationale Anliegen zur
Seite stehen und ein höchst differenziertes ideen-
gesellichtliches Bild ergeben.

I befaßt sich mit der „Gotik im Vitrtlvianismus"
(S. 9—49). Das 19. Jh. leidet unter dem Babel der
Stile. G. zeigt vorerst in drei sprachgeschichtlich
orientierten Kapiteln die Entwicklung des Stilbegriffes
im Italienischen, Französischen und Englischen und die
Herausbildung des Verständnisses der Gotik als besonderen
Stil im Rahmen des vitruvianischen Systems
der Säulenordnungen, wie es seit der Renaissance
wieder galt und den Architckturgattungen entsprechend
angewandt wurde. Den Anstoß zur Auseinandersetzung
mit der Gotik gaben seit dem 16. Jh. zunächst
Wiederherstellung und Vollendung der gotischen Kirchen
S. Petronio in Bologna, Kathedrale Sainte-Croix
in Orleans und Westminster Abbey in London. Den
frühesten deutschen Beleg für die Bezeichnung „gotischer
Stil" hat G. in der Beschreibung des Wörlitzer
Parks durch Carl August Boettiger von 1797 (2. A.
Wörlitz 1973) feststellen können (S. 26). Zwei weitere
Kapitel stellen dar, wie, ausgehend von Vitruv, die
Gotik auch aus ihrem Naturbezug (Mimesislehre, Ausgangspunkt
die Urhütte) und aus dem historischen
Nacheinander der Stile (Entwicklungsgedanke) begriffen
wurde.

II „Frühe Neugotiktheorien" (S. 51 — 91) stellt
zunächst die führende Rolle Englands und seinen
besonderen Beitrag zur europäischen Neugotik heraus.
Der Weg führt „Vom englischen Garten zu Pugins
Kirchen" (11,1), von sentimentaler Naturfrömmigkeit
zur betont christlichen. Personen, schriftliche Zeugnisse
und gebaute Denkmäler zeichnen den Weg der Neugotik:
der Floratempel, den William Stukeley (1687— 1765)
sich erbauen ließ, seit 1750 der Umbau des Landhauses

692

Strawberry Hill des Dichters Horace Walpole (1717 bis
1797), zunächst durch Richard Bontley (1708—1782).

„Von John Carter (1748—1817) besitzen wir die
vielleicht älteste Begründung, warum sich der gotische
Stil als Kirchenstil eigne" (S. 53). Danach gibt der
gotische Kirchenbau die frömmeren Gedanken ein,
erweckt größere Andacht und lädt zur Betrachtung
des ewigen Lebens ein. Bei James Malton (gest. 1803)
findet sich als neuer Zug für die Geschichte der Neugotik
die „Nachahmung nicht einzelner Formen, sondern
eines bestimmten Bauwerks" (S. 57). Für John Claudius
London (1783—1843) gilt schließlich die Gotik all
Universalstil für alle Bauaufgaben. Die erste neu-
gotische Kirche in England baute der Brücken- und
Kirchenarchitekt James Savage (1779— 1852), der —
obwohl ein Bewunderer der gotischen Kathedral-
architoktur — doch die Stilnachahmung verwarf.

Die ausschließliche Verpflichtung gegenüber der
Gotik empfand Augustus Welby Northmore Pughl
(1812—1852), Sohn eines französischen Emigranten und
später Konvertit. „Drei Gründe führt I'ugin für die
Nachahmung der Gotik an: Gotische Architektur allein
erfüllt das Postulat tatsächlicher und augenscheinlicher
Zweckmäßigkeit, gotische Architektur ist, christliche
Architektur, gotische Architektur ist nationale
Architektur" (S. 67). Er orientiert sich an den englischen
Pfarrkirchen des 14. Jhs.

Prankreich erscheint unter den drei repräsentativen
Namen „Soufflot, Chateaubriand and Hugo" (IT,2).
Nicht das sentimentale Interesse wie in England,
sondern das konstruktive ist der Ausgangspunkt für
die Neugotik. Vor der Revolution wendet besonders
Jacques-Germain Soufflot (1713—1780) — Erbauer
von Sainte-Genevieve in Paris — sein Interesse der
Gotik zu (1741 Vortrag an der Acad(5mio dos Sciences
in Lyon). Nach einem Stillstand in der Revolutionszeit
erweckt Francois-Renö de Chateaubriand (1768—1848)
in seinem englisch beeinflußten ,,G<5nio du Christia-
nisme" eine neue Welle christlich motivierter Gotikbegeisterung
, für die später auch der Schriftsteller
Montalembert (1810—1870) eintritt. Viollet-le-Duc
(1814—1879) und Victor Hugo („Notre-Dame de
Paris") stellen das Volk als Schöpfer der gotischen
Baukunst heraus.

Die Rollo der Neugotik in Deutschland und ihre
Anwendung als nationaler Stil läßt sieh am Ausbau
des Kölner Doms, dem größten nougotisehen Bauunternehmen
Deutschlands ablesen (3 „Das deutsche
Nationaldenkmal"). Bevor 1840 Friedrich Wilhelm
IV. den Grundstein zum Ausbau des Domes legte, war
in rund sieben Jahrzehnten ein unterschiedlich begründetes
Interesse an der Gotik gewachsen. Marksteine
bilden die Gartentheorie von Christian Cay Laurenz
Hirschfeld von 1779, Goethes Bekenntnis zu Erwin
von Steinbach von 1772, Georg Försters Bewunderung
des Kölner Domes 1790, „Franz Sternbalds Wanderungen
" von Ludwig Tieck 1798, Schinkels Entwurf
mit Begleittoxt zum Grabmal der Königin Luise von
Preußen von 1810. Das InteroRse an einem gotischen
Dom als Nationaldenkmal gründet in den Befreiungskriegen
.

„Ein seltsames Bündnis von Kräften setzte den
Fortbau (seil, des Kölner Domes) in Gang: preußischer
Protestantismus und rheinischer Katholizismus, verspätetes
Gottesgnadentum und nationaler Liberalismus
aller Schattierungen. Kein Wunder, daß dieses Bündnis
bald zerbrach. Es war ein weiter Weg vom Satz dos
Romantikers Görres, der Fortbau sei ,ein Symbol des
neuen Reiches, das wir bauen wollen', bis zu dem i"1

Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 9