Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1976

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

687

Theologische Litoraturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. !)

«88

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Schloemiuin, Martin; Biegmnnd Jacob Bnunigarlni. System
uiiil Geschichte in der Theologio des Überganges zum
Neuprotestantismus. Göttingen: Vandenhoeck & Rup-
recht [1074]. 'Mf2 S. gr. 8° — Forschungen zur Kirchon-
und Doginengesehichto, 20. Kart. DM 08,—.

Dieser Arbeit liegt eine. Bochumer Habilitationsschrift
zugrundei die auf Anregungen von G. Hornig
und dessen Semler-Studien zurückgeht. Sie muß im
Kähmen der Bemühungen gesehen werden, die sich auf
die Erforschung der Anfänge des Neuprotestantismus
richten. Daß in diesem Zusammenhang Semler eine
Zontralgestalt ist, wird niemand bestreiten. Von da
aus ergibt sich die Frage nach der theologiegeschieht-
lichen Einordnung seines Lehrers Sieginund Jacob
Baumgarten (170«—1757). Allgemein kann man von
oiner „Wioderentdeckung der Aufklärung" in der
Gegenwart sprechon. Während in der Zeit nach dem
ersten Weltkrieg der Neuprotestantismus weithin als
„überwunden" galt, bemüht man sich seit einiger Zeit
wieder differenzierter zu urteilen (12). Aber die „Unsicherheit
gegenüber der Frage nach der Bedeutung
jener Wende zum Neuprotestantismus" ist in der
Theologie noch nicht gewichen (13). „Dio Umformung
des christlichen Denkens in der Neuzeit" (Hirsch)
„ist ein höchst verwickelter Prozeß, der im 17. Jahrhundert
beginnt und bis ins 19. Jahrhundert hineinreicht
" (13). Es ist darum verständlich, daß „das Work
von Emanuel Hirsch auf die naheliegende Frage nach
einem eindeutig zu fixierenden Wendepunkt koino
klare Antwort" gibt (13). Einen deutlich wahrnehmbaren
Einschnitt kann man immerhin in der Zeit
„um 1740" feststollen. Daß auch bereits bei Philipp
Jakob Spener von einer „Wende" gesprochen wordon
muß, wird man nicht bestreiten. Immerhin dürfto der
Pietismus als Gosamtorschcinung noch nicht zum
Neuprotestantismus zu rechnen sein (15). Aber „zwischen
Speners pietistischem Neuanfang und Semlers
Durchbruch zur historisch-kritischen Aufklärungs-
theologie" liegt ein Abschnitt, „in dem sich der Abbau
des Alton vollzieht und dor Aufbau des Neuen vorbereitet
" (15). Dieses „Zwischenstadium dor Thcologio-
geschichto" bedarf noch oiner genauoren Erforschung.
In welchem Sinn ist die Theologie Baumgartens als
Übergangstheologio zu vorstehen und welchen Boitrag
zur Entstehung dos Nouprotostantismus hat sio geleistet
(19) ?

Baumgarton läßt sich theologiogoschichtlich schwer
einordnen; sein immenses Lebenswerk trägt disparato
Zuge. Dementsprechend standen auch soino Schülor,
zu denen Joh. Melchior Gooze obonso wio Job. Salomo
Semler gehörten, in "Verschiedenen Lagern (vgl. die
instruktive Übersicht S. 21, Anm. 23). Bei der Wieder-
besotzung seines Lohrstuhles gab es „ein langwieriges
Tauziehen um die einzuschlagende Richtung" (23). S<>
weichen auch dio späteren Doutungon Baumgartens
erheblich voneinander ab.

Baumgarten wurde in seiner .lugend von einem
rechtgläubigen Pietismus geprägt; sein Vater war cm
enger Mitarbeitor von August Hermann Francko. Er
studierte in Halle, u. a. auch orientalische Sprachen,
und wurde Lehrer im Waisenhaus. 1734 (nicht 1743!)
erhielt er einen ordentlichen theologischen Lehrstuhl
in Halle. Zu seinen Vorlesungen strömten Hunderte
von Hörern. Gegen die neidischen Anfeindungen von

Kollegen, insbesondere von Joachim Lange, die ihm
Wolffianismus vorwarfen, wußte er sieh zu verteidigen.
Als Gelehrter genoß er ein überdurchschnittliches Ansehen
. Seine private Bibliothek umfaßte weil über
22 000 Blinde, mehr ids die damalige Universitätsbibliothek
in Halle. Seine riesige Arbeitsleistung hat
Semler in seinem „Ehrengedächtnis" für Baumgarten
gewürdigt. Das deutsche Publikum machte er mit der
neuen und neuesten Literatur des Auslandes, vor allem
Englands, bekannt.

Als Systematikor strebte er eine Verbindung von
Pietismus und Wolffianismus an. Mau darf die pietisti-
schen Elomonte bei ihm nicht übersehen (gegen K.
Barth, A. Ritsehl und andere). Es fohlt zwar jeder
Gefühlsüberschwang, aber der ordo salutis dominiert,
Auf eine plötzlicho Bekehrung legt Baumgarten keinen
Wert; sio wird abor auch von anderon Hallensern nicht,
üborall lehrmäßig vertreten. Der Einfluß von Wolff
macht sich zunächst in der starken Systomatisiorung
bemerkbar. Er bedient sich dabei dor Demonstrations-
methodo, was offenbar auch zu seinem Hörorfolg boitrug.
Er zieht logischo Schlüsso aus den Schriftwahrheiten,
die ihm als „erweislich" erscheinen. Dio Offenbarung
Gottes in der Schrift ist vernunftgemäß, ebenso auch
die Unterwerfung dor Vernunft unter den Glauben
(75). Wolff hat besonders auf dio Gottes- und Schöp-
fungslchro bei Baumgarten eingowirkt. Aber der
Wolff ianismus hat den Pietismus bei Baumgarton
nicht ganz verdrängt. Er will boidos voroinigon. Seiner
Dogmatik legte er das pietistischo Kompendium von
Froylinghauson zugrundo, das seinerseits auf Spcnor
zurückgeht. Als das Thema dor Theologio betrachtet
Baumgarten unser Verhältnis zu Gott, dio Vereinigung
mit Gott (84). Darum nimmt die unio mystica (im
Anschluß an Arndt) oino wichtige Stello ein. Daboi ist
dio richtige Erkenntnis dio Voraussetzung (92).

Es ist gowiß nicht falsch, Unausgoglichenhoiton in
Baumgartens System als Zeichen oinor „Üborgangs-
theologio" zu erklären. Zweifellos haben sieh aber auch
bei ihm Entwicklungen vollzogon. Um sio zu orfasson,
sollte man aber nicht von seinor postum herausgegebenen
„Evangelischen Glaubenslehre" ausgeben,
auf die sich das bisherige Intorosso hauptsächlich
gerichtet hat. Entscheidend ist vielmehr dio zuneh-
mendo Hinwendung Baumgartens zur Geschichte
(Kap. III). In diosor Feststellung liegt das Hauptverdienst
dor Untersuchung Bchloemahns und ihr
wesentlicher Fortschritt gegenüber der bisherigen
Interpretation Baumgartens. Zu der Verbindung von
Hallesohem Pietismus und Wolffianismus muß man
dio Hinwendung zur Geschichte hinzunehmen, um
Baumgarten und dio Auswirkung seiner Theologie
rocht würdigen zu können. Seil, 17:}!) hat sieh Bauin
garton vorwiegend mit historischen Arbeiten befaßt,
neben den Bxegetica vorwiegend mit. Kirchen- und
Weltgeschichte (vgl. S. 109—122). Die neue Arbeitsrichtung
stieß auf Widerstand durch den Pietismus
und den Wolffianismus. Nach Wolff ist die Historie
überhaupt keine Wissenschaft, weil die demonstrative
Begründung fehlt. Kür Baumgarfen bekommt die
Historie den Bang einer kritischen Erkenntnis. Ks gibt
historische Gewißheit. Auch das „Wahlscheinliehe"
hat historischen Wert (gegen den l'yrrhonisinus). Dio
Hinwendung zur Geschichte war für Baumgarton keine
Klueht vor der Dogmatik; sie dient vielmehr der
Apologetik gegenüber der historischen Kritik au
Bibel und Christentum, wobei er sicherlich deren
Möglichkeiten überschätzt hat. Baumgarten ist auf
den geschichtlichen Charakter des Christentums aufmerksam
geworden. Zu einer wirklich historisch