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1976

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Neues Testament

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Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 9

664

NEUES TESTAMENT

Ii»iHfl, Jacques: Jesus vor seinem Leben und Tod, über«,
v. H. IT. v. Balthasar. Binsiodeln: Johannes Verlag
[1973]. 247 S. 8° = Theologia Komanica, II.

Das Jesusbuch Guillets zeigt eine der Möglichkeiten
gegenwärtiger katholischer Theologie auf, sich die
Krgebnis.se der historisch-kritischen Jesus-Forschung
zu adaptieren. Es faßt den irdischen Jesus („vor seinein
Leben und Tod" — wobei der Sinn des „vor" in dieser
Kombination undeutlich bleibt1) ins Auge, und zwar
nicht in einem fragwürdig-„modernen" Sinne mit der
Absicht, Jesus als sozial engagierten Revolutionär oder
sonstwie als den Krfüller aller Humanität darzustellen.
Vielmehr könnte man wohl mit M. Kählers Formel
sagen, G. wolle den „geschichtlichen, biblischen Christus
" zeichnen, womit angedeutet ist, daß G. in allen
wesentlichen Punkten keine Differenz zwischen dem
Jesusbild der (vier!) Kvangelien und Jesus selbst
(einschließlich seines Selbstbewußtseins) sieht (vgl.
etwa S. 21 oben). Dabei sind dem Vf. die Anfragen der
historisch-kritischen Bibelwissenschaft voll bewußt, und
er macht sie auch von Punkt zu Punkt vor dem Leser
deutlich. Aber schließlich entsteht doch immer wieder
ein Bild, das nur wenige Einzelheiten am Rande auf
das Konto der Evangelisten verrechnet, im übrigen
aber die „Stimmigkeit" (so S. 55, vgl. S. 28) auch in der
eomplexio oppositorum aufweisen will.

Demgemäß geht G. in seiner Darstellung auch nicht
von den Punkten aus, dio die kritische Forschung als
gesichert ansehen würde, um daran die nur relativ
sicheren Überlieferungen anzugliedern. Sondern er geht
in Kap. III bis XIV am evangelischen Bericht von der
Anknüpfung Jesu an den Täufer und von der Tauft!
Jesu an bis hin zum Prozeß entlang, mit folgenden
weiteren Unterteilen: „Das Reich Gottes" (in diesem
Kap. tritt die Verkündigung Jesu überraschend zurück
gegenüber der Betrachtung seiner Taten), „Jesus und
die Sünder", „Die Bergpredigt" (wobei hier die Seligpreisungen
im Mittelpunkt stehen), „Das Neue Gesetz"
(hier werden die anderen Themen der Bergpredigt
aufgegriffen), „Das Bekenntnis von Cäsarea" (ein für
G.s Darstellung entscheidender Punkt 2), „Der Men-
schensohn" (mit einer durch Tabellen übersichtlich
gemachton Analyse der Menschensohn-Logien, deren
drei Reihen doch in der Hauptsache „echt" sind *),
„Die Ankündigung der Passion", „In der Erwartung
des Menschensohnes" (der so verschiedene Tenor der
„Reden" Mk 13 und Lk 17,22 ff. erklärt sich aus der
verschiedenen Hörerschaft), „Der Neue Bund" (die
Einsetzung der Eucharistie), „Der Sohn und der
Vater" (als das eigentliche Thema der Passion Jesu).

Die einführenden Kapitel „Bewußtsein Jesu und
Glaube der Jüngor" sowie „Evangelische Progression"
(zu dieser Überschrift vgl. Anm. 2) machen deutlich,
daß das Hauptanliegen des Buches die Christologie ist,
und zwar eben eine auf den Irdischen bezogene Christologie
, Denn das Ostergoschehen kann der Christus-
Offenbarung in der Sache nichts mehr hinzufügen —
sonst „wäre der Glaube nichts weiter als das blinde
Sich-überlassen an ein unverifizierbares Wort" (S. 225).
Denn wenn auch „die Offenbarung Jesu Christi . . .
vor der Auferstehung nicht vollendet und . . . ihre
Gestalt nicht erhalten" hatte, so war sie doch' „in
Winten und Taten vollständig ausgedrückt im Augenblick
, da Jesus seinen Geist aufgab" (ebd.; das sinn
störondo Komma hinter „Taten" ist wohl zu streichen).

Der Haupteinwand, vor den G. sich gestellt sieht,
kommt von der traditionsgescbichtlichen Erforschung
der christologischen Titel her (auch wenn G. die Arbeiten
etwa von F. Hahn oder W. Krämer gar nicht, die von
Ph. Vielhauer nur einmal nennt und sich lieber auf
O. Cullmann bezieht, sind ihm doch dio wesentlichen
Argumente gegenwärtig). So sucht er einen Ausgleich
zwischen dem Axiom, daß eine christologischo Aussago
nur dann sinnvoll und legitim sei, wenn sie dem Selbstbewußtsein
Jesu und seinen eigenen Aussagen entspricht
(S. 8: anderenfalls hätte sie nicht mehr Wert
als die heidnisch-mythologische Anrede der Leute
von Lystra an Barnabas und Paulus, Apg 14,11), und
dem auch für G. aus dem Text der Evangelien deutlich
hervorgehenden Sachverhalt, daß Jesus keine christologischo
Belehrung über sich gibt. Christologie muß
„auf einer Initiative Jesu" beruhen (S. 8) — zugleich
soll aber das Bekenntnis keine schulmäßig auswendig-
gelernte Formel, sondern verstehend geprägte Aussage
sein (S. 17 u. ö.). Die Jünger müssen es also sein,
die die Aussago formulieren ; aber Jesus ist es, der sio
dahin führt, daß sie die Aussagen finden, die dem
entsprechen, was er in Wahrheit „ist".

Das ist an sich ein interessanter Versuch, der
Schwierigkeiten Herr zu werden, die sich aufdrangen,
wenn man einerseits den historisch-kritischen Frage-
Stellungen wenigstens einigermaßen gerecht werden
möchte und dennoch andererseits daran festhalten will,
daß sich christologischo Aussagen historisch — und
zwar am Selbstvorständnis Jesu selbst! — verifizieren
lassen müssen, um „wahr" sein zu können.

Am schwersten hat es G. verständlichorweiso mit
dem wichtigsten, weil dem Wesen Jesu angemessensten
Titel „Gottessohn". „Wenn Jesus wirklich der Sohn
Gottes, . . . Gott von Gott gezeugt ist", (S. 8), dann
„muß er es von Geburt an sein, sonst wird er es nie",
und: „er muß darum wissen" (S. 52), und: er selbst
„muß uns . . . sagen, daß er Gottes Sohn ist, damit wir
es wissen" (S. 9). Die ersto Schwierigkeit stellt sich
bei der Tauferzählung ein. So etwas wie den Beginn
der Sohnschaft kann die Gottesstimmo Mk 1,11 nicht
meinen, auch nicht eine Mitteilung an Jesus über
etwas, was er bereits „war", aber noch nicht wußte.
Aber auch um eine Offenbarung an andere, z. B. an don
Täufer oder die Jünger, handelt es sich nicht (S. 44);
insoweit bleibt G. der Mk-Version treu. Abor trotz der
Bemühung um einen quasi ontwicklungspsychologischen
Zugang zum Geheimnis dos göttlichen Selbstbewußtseins
Jesu (S. 53f.) bleibt es für den Lesor letztlich
unklar, welchen Sinn dio Gottesstimme nun eigentlich
hatte. „Was dio Taufe Jesu historisch war", läßt sich
nicht „rekonstruieren"; aber wir sollen (oder „dürfen")
doch, „den Bericht davon lesend, dio Stimmigkeit
bewundern, mit dor sie sich im Gang seines Daseins
einstellt" (S. 55). Seinen Jüngern hat sich .Jesus nicht
explizit als der „Sohn" offenbart; dabei bleibt <'•■
sogar trotz der johanneischon Darstellung (S. 217 f.;
vgl. S. 9: Er durfte es nicht, um nicht der Mythologi-
sierung Vorschub zu leisten). Die Gottessohnaussago
ist vielmehr eine nachösterliche „christliche Schöpfung
" (S. 217). Aber gemäß den mitgeteilten Prämissen
muß sio letztlich doch „Widerhall eines sieher authentischen
Wortes" Jesu sein (S. 222); dafür kommen Mt
11,27 (<■= Lk 10,22) und Mt 24,36 ( Mk 13,32) in
Frage. So beruht auch die nachösterliche christologischo
Titulierung auf Jesu Selbstbewußtsein und Eigen -
Äußerung. Wie freilich die genannten „sicher authentischen
" Jesusworto tradiert worden sein sollen, ohne
daß Jesus sich vor don Tradenten damit als der „Sohn"
offenbarte — das bleibt rätselhaft.