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Ausgabe:

1976

Spalte:

621-625

Kategorie:

Kirchenrecht

Titel/Untertitel:

Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung in ihrer Geschichte 1976

Rezensent:

Ammer, Heinrich

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021

Theologische I .iteraturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 8

622

May, Philip: Which Wuy lo Educato! Chicago, HL: Moody

Presse [1975]. 159 S. 8°. $ 2.95.
Wagner, Harald: Evangelischer Erwachsenenkatechismus

(Th Gl 65, 1975 S. 439-452).

KIRCHENRECHT

Donibois, Hans: Das Recht der Gnade, ökumenisches Kirchou-
rechl II. Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung
in ihrer Geschichte. Bielefeld: Luther-Verlag 1974.
250 S. gr. 8".

Der I.Band des ökumenischen Kirchenrechts von H. Dom-
bois „Das Recht der Gnade", 1961 in erster, 1969 in zweiter
Auflage unverändert mit einem Vorwort erschienen, ist in dieser
Zeitschrift (Jg. 88, 1963 Sp. 801-814) von S. Grundmann
in einem ausführlichen Aufsatz kritisch gewürdigt worden.
Das Werk hatte nicht geringe Erwartungen an seine Fortsetzung
geweckt. Der vorliegende 2. Band behandelt die „Grundlagen
und Grundfragen der Kirchenverfassung in ihrer Geschichte
". Im geplanten Gesamtentwurf des kirchlichen Ver-
fassungsrechlcs sind noch „die Darstellungen der großen Institutionen
des Kirchenrechts" und „der Versuch einer Verfassungstheorie
der Kirche" zu erwarten. Das Werk ist also breit
angelegt. Es hat eine große Fülle von geschichtlichem Material
tum Hintergrund und arbeitet mit einem hohen Maß an z.T.
ungewohnten Abstraktionen. Es ist darum keine leichte Lektüre
. „Der Leser ist um loyales Verständnis für die unvermeidliche
Differenz zwischen Sachaufgabe und didaktischer
Vermittlung gebeten" (20). Aber es bietet zugleich Einsicht in
Zusammenhänge und Grundverständnisse an, die überraschende
Perspektiven eröffnen.

Vf. will die Dynamik in der Geschichte der Kirche von innen
her begreifen. „Nur wenn die innerste Kraft des Glaubens
selbst aufgerufen und in Bewegung gesetzt wird, kommt die
Kirche in Fluß" (17). Dieses Leben aus dem Glauben stellt sich
in der Einheit von Gottesdienst, Lehre und Ordnung der
Kirche dar. „Erst die Erhellung der institutionellen Formen,
welche im Bereich der Kirche die liturgischen Strukturen immer
mit umschlossen haben, bietet die Möglichkeit, auch den
Stellenwert der lehrmäßigen Aussagen und deren sachliche
Begrenzung zutreffend zu erfassen" (177). Von dieser Voraussetzung
her muß dann der Weg der Kirche durch die Gescnichte
..trotz der in ihr enthaltenen kontradiktorischen Gegensätze"
als „Problcmeinheil" betrachtet werden (16). Es gilt die Bildung
der Konfessionen in ihrem „Anspruch", ihrem „Programm
" und ihrer „verbindlichen Gestallung" nicht jeweils
apologetisch gegeneinanderzustellen, sondern in ökumenisch
konziliarer Einheit kritisch zu vergleichen. Das konfessionelle
Selbstverständnis verstellt „den Blick für die fortdauernde geschichtliche
Einheit der Kirche" (67). In Wirklichkeit vollziehen
sich in diesen „Spaltungen" geschichtlich notwendige „ak-
*'vc und passive Individuationcn", indem sich tiefliegende
Strukturunterschiede durchsetzen und darin die Geschichts-
'uhigkeit der Kirche erproben. Diese Individuationcn sind
Primär aktiver Art, weil die Kirche aus den Kräften ihres eigenen
Glaubens zu solchen Indviduationen drängt, wenn sie
'Hieb gleichzeitig Vercinseitigungen darstellen (66). Sie sind
sekundär aber auch passiver Art, weil nun auch Faktoren von
•Uoen her Leben und C.estalt der Kirche mitbestimmen. Die
Kirche setzt sich diesen weniger aus „staatskirchenrecht-
licheri Erwägungen" als aus „missionarischen, pastoralen und
sozialen Gründen" aus (77). So bilden völkische Einheiten auch
nationale Kirclicncinbcitcn, um frühesten erkennbar außerhalb
des RAmischai Reiches etwa in Armenien und Äthiopien,
'"" verhängnisvollsten sich darstellend im Protestantismus,
W() „das äußere Kirchenwesen ohne deutliche Begrenzung den
Weltlichen Gewalten anheimgegeben wird" (77).

Dinter dieser Konfcssionshildung, die uns manchmal so
schmerzlich berührt, steht nicht nur die Frage nach der Wahr-
■Wt, sondern auch die drängende Frage nach der Geschichts-
fi,'"gkeit der Kirche, „Die Entscheidung zur Geschichte bedeutet
eine Absage an eine bestimmte Form von spiritualisli-
scher Pncumatologie" „ohne spezifische Sozialformen". Denn
die Kirche ist in ihrer notwendigen geschichtlichen Gestalt
Bichl frei in ihren Geslaltungsmögliclikciten, wie man immer
wieder CA VII falsch ausgelegt hat, sondern sie hat allein „die
Wahl, sich zwischen den ihr möglichen Strukturelementcn zu
entscheiden" (93). Die beiden Primärclemenle sind nach dem
Ausweis des Neuen Testamentes die Kirche als „Inbegriff all
ihrer Wirkungen und Möglichkeiten", d. h. als die eine in dem
Wirken des Herrn und seines Geistes begründete und durch
die eine laufe zusammengeschlossene ecelesia universalis und
die Knau als die fortdauernde Versammlung der Christen
unter Wort und Sakrament in notwendiger lokaler Begrenzung
. Nur diese beiden Strukturelemente haben „eine primäre
theologische üignilüt" (38). Neben sie treten zwei sekundäre
Strukturelemente, die wir in den Partikularkirchen, den Brük-
ken zwischen lokal begrenzter und universaler Kirche, und in
den Ordensbildungen als besonderen Dienstgemeinschaften
vor Augen haben. „Diese vier Formen sind keine isolierten
Größen. Jede von ihnen verweist auf die übrigen und ist mit
ihnen konstitutiv verbunden" (40). Es ist aber offenbar in der
Geschichte nicht möglich, die theoretisch denkbare Idealgestalt
in der Verbindung aller vier Strukturclemente zu verwirklichen
. Das veranlaßt D., von einer notwendigen „Defizienz" der
Kirchenverfassung zu sprechen, die in einer „den Menschen
eingestifteten, unübersteigbaren Begrenzung begründet ist"
(97). E« wäre aber falsch, eines dieser Strukturclemente zu
spiritualisiercn und damit zu einer außerrechtlichen Größe zu
entwerten. Vielmehr kommt es darauf an, zu erkennen, daß
die Kirche als „ein komplexes Gebilde" „aus und in mehreren
produktiven Widersprüchen" leben muß, das die ihr „möglichen
und sinnvollen Lebensformen sämtlich und gleichzeitig
auszubilden und miteinander zu verbinden" niemals in der
Lage ist (101) und das dennoch die ihr „eigentümlichen Anforderungen
der konkreten Gestaltung" „nicht unterbieten'*
darf. D. h. aber: Auch wenn bei uns die „souveränen" Parli-
kularkirchen „wie verwöhnte, falsch sensibilisierte Kinder
mühsam resozialisiert" werden (86), gilt es gerade in der seit
Uppsala proklamierten konziliaren Begegnungen und Zusammenarbeit
der Kirchen, das Verfassungsrecht der Partikular-
Kirchen an der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Kirchen-
rechls der universalen Kirche zu orientieren. Diesem universalen
Kirchenrecht widmet D. in kritischer Auseinandersetzung
mit K. Barth, Erik Wolf und D. Pirson einen besonderen
Exkurs, indem er auch die „Sätze des allgemeinen Kirchenrechts
" noch einmal abdruckt, in denen ein bestehender Konsens
der Kirche über bestimmte Rechtsgrundsätze oberhalb
der partikularen Verschiedenheit „seit langem evident" sei
(222-264).

Ähnlich prononciert nimmt der Vf. im Text und in einem
besonderen Exkurs zum Begriff der „Gemeinde" Stellung, die
in der römisch-katholischen Tradition ihre „theologische Di-
gnität" (Kanon 216 des CJC) und auf reformatorischer Seite
„ihre geschichtliche Dimension" verloren habe. Luther habe
zwar der Gemeinde ursprünglich eine hohe geistliche und
rechtliche Verantwortung zuweisen wollen und dieses im allgemeinen
Priestertum der Gläubigen verankert. Aber dies sei
ein „Postulat" geblieben, das „nicht verwirklicht worden ist
und auch nicht verwirklicht werden konnte" (154). In den re-
formalorischeu Kirchen gewann die Gemeinde ihre Bedeutung
auf ganz anderem Wege erst mit dem allgemeinen preußischen
Landrecht (1794) und der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung
von 1835. Dabei wird aber durch „Verallgemeinerung
" und „Überleitung" der Gemeindebegriff so „einlinig"
und „ausschli'ßlich" überhöht, daß die Kirche darüber nur
als „administrativer Oberhau abgewertet" werden konnte.
Solche Überhöhung steht — das erweist die Geschichte — im
Widerspruch zu der erläuterten Gesamtstruktur der Verfassung
der Kirche. Neuere protestantische Kirchcnverfnssungen
bemühen sich darum, den Begriff der Gemeinde und ihrer
Aufgaben nicht ausschließlich an die Territorialgliederung der
Ortsgemeinde zu binden, sondern für andere „kommunitüre
Lebensformen Platz" zu schaffen (206).