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Ausgabe:

1976

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

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(i 19

stufe entwickelt werden. Die Grundideen einer langfristigen
Reform des RU lassen sich nur verwirklichen, wenn sie von
frühester Kindheit an erzieherisch vorbereitet werden.

In den bisherigen Unlerrichtskonzeptionen sind die Bedingungen
von Lernprozessen in ihrer Komplexität zu wenig
bzw. nur einseitig berücksichtigt worden. So hat die evangelische
Unterweisung aufgrund ihrer theologisch begründeten
Methodenkritik nicht beachtet, „daß Inhalte immer und ausschließlich
in methodischer Artikulation vermittelt werden,
daß sich Arbeitsformen und lirziehungsstile prägend auf Menschen
auswirken" (I. S. 30). Sie hat zwar „die Unverfügbarkeit
des Wortes inhaltlich berücksichtigt, nicht aber Vermittlungs-
prozessc und Sozialformen in Kirche und Unterricht" (S. 31).
Auch die Reformvorschläge jüngeren Datums setzten zumeist
ihre Akzente einseitig Weithin werden hier Fähigkeiten bei
den Schülern bereits vorausgesetzt, die es indes erst zu entwickeln
gilt. Daraus ist zu folgern, daß sich der RU zunächst
einmal am Schaffen seiner Voraussetzungen planvoll zu beteiligen
hat. „Zweifellos gehört Befähigung zu kritisch-produktivem
Denken zu den Voraussetzungen theologischer Reflexion
im Unterricht" (I, S. 73).

Produktives und kritisches Denken sind Fähigkeiten, die
bereits im Primarbcreich zu entwickeln sind. Neuere entwick-
lungs- und lernpsychologische Erkenntnisse zeigen, daß alle
Voraussetzungen dazu bereits bei Sieben- bis Achtjährigen gegeben
sind (üerter, Piaget, Bruner u. tu). Produktives Denken
ist aus auf Neues, auf Problemerkenntnis und Problemgewin-
nung, es will die Schüler zu möglichst vielen intelligenten Fragen
und divergierenden Antworten anregen. Kritisches Denken
will hingegen eher Urteilsvermögen schulen und das Sichten
von Problemlösungen ermöglichen. „Insgesamt geht es mir
bei dem Doppelbegriff ,krilisch-produkliv' um Denkformen,
die sich im Rahmen der von der Schulreform angestrebten
Ziele der Wissenschaftsorientierung und Selbstbestimmung im
Religionsunterricht... auswirken müssen" (I, S. 85). Damit
das möglich wird, gilt es, „die elementaren Anfänge von Denk-
und Lernprozessen aufzusuchen" (I, S. 52) und von daher neue
Lernprozesse aus einfachen Schritten aufzubauen. In ihnen
haben bisher vernachlässigte Methoden den Vorrang zu gewinnen
: „entdeckendes Lernen, selbständiges und kooperatives
Arbeiten, Schulung im Problemlosen" (I, S. 53). Neben den
Inhalten gewinnen diese Methoden gleichrangige Rcdeutung.
Die inhaltlichen Forderungen, die sich in veränderten Lernzielformulierungen
niederschlagen, lassen sich nur realisieren,
wenn entsprechende Methoden bereits im Primarbcreich variabel
eingesetzt und die entsprechenden Voraussetzungen geschult
werden.

Begründet wird dies alles im Bd. 1 in einer differenzierten
Auseinandersetzung mit der vorhandenen traditionellen Konzeption
des RU als Ev. Unterweisung und in der Diskussion
mit Neuansätzen zur Reform dieses Faches, wie sie in den
letzten Jahren im Räume der BRD bekannt geworden sind.
Zusammenfassend stellt sich die Aufgabe für einen veränderten
RU im Primarbereich so: „bei Neuansätzen muß es um
Berücksichtigung der Elementaria theologischer Fachwissenschaft
, um Erschließung des Lebensraumes für den Schüler in
interpersonalen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sowie
um die Iniliierung von Denk- und Lernprozessen gehen
(I, S. 04). Die Vf.in will dazu beitragen, daß „eine sinnvolle
Planung und Einübung von Arbeits- und Denkformen, eine
systematische Schulung von Verstehens- und Sprachmöglichkeiten
, der Aufbau von Lernsequenzen, das Erfinden von entsprechenden
Denkimpulsen und Arbeitsaufträgen" (I, S. 71)
ermöglicht wird. Im II. Teil des 1. Bandes werden die dazu erforderlichen
lerntheorelisehen Erkenntnisse zusammengetragen
(Dewey, Piaget, Bruuer, Lewin u. u.).

Im 2. Band werden dann drei Modelle vorgeführt, die verschiedene
Teilaspekte des kritisch-produktiven Denkens herausarbeiten
:

Modell I: Erziehung zu hermeneutischer Produktivität am
Beispiel neutestamentlicher Gleichnisse

Modell II: Erziehung zu sachkritischer Arbeit an einem alt-
testamentlichen Text (Jos 6)

020

Modell III: Gehorsam und Ungehorsam — Erziehung zu sozialistischer
Reflexion —.

Zu allen drei Modellen wird die Planung von kritisch-produktiven
Denk- und Lernprozessen für Acht- bis Zwölfjährige
vorgeführt, und es werden die im Unterrichtsverlauf sich vollziehenden
Denk- und Lernprozesse beobachtet, beschrieben,
analysiert und ausgewertet. Im Ergebnis wird dann aufgezeigt,
daß „schon Sieben- bis Achtjährige zu prinzipiell gleichen konkreten
Denkformen fähig sind wie Zwölfjährige" (II, S. 159),
daß sie „zu einem divergierenden, mehrdimensionalen Denken
in sprachlichen Zusammenhängen imstande sind" (II, S.83) und
daß sie es lernen können, sachkritisch mit biblischer Tradition
umzugehen.

Für künftige Curricula sind solche Teilerkenntnisse von
großer Bedeutung, eröffnen sie doch einem Unterrichtstyp
neue Möglichkeiten, der sich darum bemüht, „thematischen
und biblischen Unterricht stündig wechselseitig aufeinander
zu beziehen und das Erfassen vielfältiger Beziehungslinien
zwischen Wirklichkeit und theologischen bzw. religiösen Deutungen
zu schulen" (II, S. 20). Wo Schüler in den Stand gesetzt
werden, „Wirklichkeit zu beobachten, zu beschreiben und
in kritischer Distanz zu reflektieren", aber zugleich auch fähig
werden, „Tradition zu verstehen, zu deuten, kritisch mit ihr
umzugehen, theologische Denkformeii zu erlernen" (ebd.), dort
wird der RU möglicherweise auch wieder das Interesse dieser
Schüler selbst finden, weil er auf diesem Wege Fähigkeiten
entwickeln kann, die es ihm ermöglichen, seine eigene Wirklichkeil
auch in ihren religiösen Bezügen kritisch zu reflektieren
.

Zusammenfassend formuliert die Vf.in für die Auswahl des
Lernangebotes im RU der Primarstufe eine Reihe von Gesichtspunkten
, die in der Diskussion um die Neuprofilierung
des Faches bleibende Bedeutung behalten werden:

Ziele und Themen sind entsprechend ihrer Funktion im Er-
fahiungsfeld der Schüler auszuwählen,

ausgehend von anthropologischen Ursprungssituationen des
Glaubens und Unglaubens ist durch sachgemäßen Umgang mit
Tradition ein Fundament zu schaffen, das Frage-, Denk- und
Handlungsfähigkeit der Schüler erweitert,

unter Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen der jeweiligen
Klasse sind Aufbauprinzipien für eine sachgerechte Lernplanung
bereitzustellen (II, S. 180f.).

Die Arbeit bietet zur Konkretisierung dieser Gesichtspunkte
eine Fülle von Anregungen und Möglichkeiten und ist darin
ein gelungener Versuch, der Theorie-Praxis-Vermittlung von
Modellentwürfen neue Impulse zu verleihen. Daß vor allem
theologische Fragen offenbleiben, kann nicht zuerst der Vf.in
angelastet werden, sondern bestätigt nur, daß weiterführende
systematisch-theologische Überlegungen auf diesem Gebiet
weithin fehlen. Hier wird ein Problemfcld eröffnet, das unter
ausschließlich pädagogischen Gesichtspunkten nicht hinreichend
bearbeitet werden kann und deshalb angewiesen bleibt
auf theologische Bemühungen um eine angemessene, erfahrungsnahe
Sprache in Fragen des Glaubens, durch die kritischproduktives
Denken nicht verhindert, sondern provoziert und
ermöglicht wird.

Wenn der RU sowohl seinen anthropologischen als auch
seinen theologischen Ansprüchen gerecht werden will, wird er
weder im Kontext von schulischem Angebot noch im Verantwortungsbereich
von Kirche darauf verzichten können, sich
um die Entwicklung von Denkfähigkeiten zu bemühen. Die
vorliegenden Bücher machen deutlich, daß man damit früher
und gezielter beginnen kann und wohl auch beginnen muß,
als es bisher für möglicJi und notwendig gehalten wurde.

Jena Eckhard Sclmck

Hammans, Herbert: Neue Religion im Religionsunterricht?

(ZKTh 97, 1975 S. 145-166).
Ittel, Gerhard Wolfgang: Die Uchandlung der Diaspora im

problemorientierten Religionsunterricht der Sekundarstufe I

(Die evang. Diaspora 46, 1976 S. 60-72).

Theologische Literalurzcitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 8