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Ausgabe:

1976

Spalte:

592-594

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Farr, William

Titel/Untertitel:

John Wyclif as legal reformer 1976

Rezensent:

Junghans, Helmar

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Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 8

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geliums besonders bündig zusammengefaßt hat (21ff.). Selbstredend
liegt der evangelische Einwand nahe, „Gesetz" und
„Evangelium" seien voneinander abzuheben. Eine biblisch
orientierte Theologie wird eine kritische Anfrage nicht unterdrücken
können. Wenngleich Thomas in der genaueren Fassung
des „Evangeliums" als „Neuem Gesetz" terminologisch
scharf abgrenzt und damit Mißverständnisse ausschließt, wird
man ihm in dieser Sprechweise dennoch nicht einfach folgen
wollen und können (23). Weist aber Thomas in der von ihm
getroffenen bzw. übernommenen terminologischen Entscheidung
nicht auf etwas Bedenkens wertes hin? Ist das Evangelium
, wenn es als „Gesetz" gefaßt wird, nicht bei all seiner
Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit in dem bezeichnet,
was es mit anderen Phänomen an irgendwie Vergleichbarem
besitzt! Eine solche Vergleichbarkeit würde ein Verslehen eröffnen
, das nicht in den Blick käme, wenn nur die Einzigartigkeit
und Unvergleichbarkeit Gewicht erhielte. Könnten außerdem
nicht andere „Gesetze" vom Evangelium her zum Verstehen
gebracht werden! Von Thomas her würde sich die Perspektive
einer gegenseitigen Auslegung von Evangelium und
Welt eröffnen (24f.). Noch an zwei weiteren thomasischen
Lehren, die spontan Einwände einer der Reformation verpflichteten
Theologie herausfordern — die Gnade als ein „inneres,
dem Menschen eingegossenes Gehaben" sowie die sakramentale
Vermittlung der Gnade —, zeigt Kühn Gesichtspunkte auf,
die aus evangelischer Sicht sehr bedenkenswert sind und Ansätze
zu einer Neubesinnung bieten. „Indem wir uns ihm
(Thomas) stellen, nimmt er uns in die Schule seines Denkens
und befreit uns von Einseitigkeiten und Abblcndungen, in
denen wir gefangen sind. Und so kann er zu unseren guten
Begleitern auf dem Weg in die Zukunft gehören" (31). Die
Arbeit von Kühn scheint uns beispielhaft zu sein für eine gediegene
denkerische Durchdringung der thomasischen Theologie
, der mit einer bloßen Repristination nicht gedient ist.

J. Baur geht es um eine theologische „Selbstbesinnung", „die
klarer sehen und bestimmter reden laßt", die darin zugleich
die Erwartung hegt, „es mit dem zu tun zu bekommen,
was für die Zeil an der Zeit ist" (163). Für die Frage nach
einer angemessenen Identifizierung des Evangeliums will
er auch aus dem „Potential an Einsicht, das an Thomas und
im Blick auf Thomas freigelegt wurde" (164), schöpfen.

Baur nennt nicht weniger, was sich als ein „neues Angebot
von Thomas her ' (165) anbietet: der umfassende Blick auf den
ewigen Schöpferwillen Gottes; eine Freiheitslehre, die das Geheimnis
des unfehlbar wirkenden Gottes und des wollenden
Menschen wahrt; die sakramentale Vermittlung des Heils,
welche das Wort des Evangeliums davor bewahrt, zu einer
bloß moralischen Wirksamkeit Christi zu degenerieren; die
Uberwindung einer Engführung, die zu stark an der individuellen
Heilsfrage orientiert ist. überdies kann Thomas die
Gnade im Christen so denken, daß die justitia propria keine
selbstverfügbare Größe wird (166ff.). Das thomasische Angebot
einer metaphysischen Explikation der Theologie tritt mit der
Kraft bewährter Weisheit ein (170).

Nichtsdestoweniger meldet Baur ein schwerwiegendes Bedenken
an: Wird eine metaphysische Explikation wirklich
der christlichen Schöpfungsgewißheit gerecht (171) ? Bleibt
nicht die Herrschaft des „Idcntitäls-Modells", unter dessen
Zwang das einzelne Seiende seine eigene Vollständigkeit bzw.
Vollkommenheit anstreben muß (172) ? In diesem Zusammenhang
zitiert Baur Thomas mit dem Satz: „Ulud est perfeclum,
cujus nihil est extra ipsum". Macht das völlige „Bei-sich-sclbst-
Sein" oder die Gott zugewiesene Selbst-Vollkommenheit (173)
nicht das Verständnis des christlichen Gottes der Hingabe mehr
als schwierig? Läßt sich in diesem Ansatz das göttliche Schöpfungswirken
, das in seiner Grundstruktur dem Rechtfertigungsgeschehen
gleicht (168), wirklich irn Bekenntnis zur sola
gralia fassen? Wird nicht vom „Identitäts-Modell" her ein
Bann der Kommunikationslosigkeit (173) errichtet, der nur
schwer zu durchbrechen ist?

Baur zeigt zum Schluß seines Beitrages, wie Thomas in seiner
Trinitätslehre das „Identitäts-Modell" wenigstens im Ansatz
überwindet. Leider sind an dieser Stelle seine Ausführungen
über das göttliche Sein als „In-sieh-Bezogensein" (173f.) zu
knapp, um in eine Diskussion eintreten zu können.

Die von Baur angeschnittene Frage nach dem christlichen
Schöpfungsverständnis sei jedoch im Blick auf Thomas noch
ein wenig weiter verfolgt:

Vielleicht läßt sich das erwähnte „Identitäts-Modell" am ehesten
an d :r ursprünglichen aristotelischen Metaphysik verifizieren
: Die erste, göttliche Usia ruht in ihrer Vollkommenheit
gewissermaßen ganz in sich selbst; sie ist „reiner Akt"; alle»
andere und weniger Vollkommene bewegt sie nur „als Geliebtes
". Die christliche Schöpfungslehre liegt völlig außerhalb
des Aristoteles.

Das von Baur beigebrachte Thomaszitat ist eine etwas freio
Wiedergabe von Aristoteles, Melaph. V,16. Der Stagirite erörtert
dort den Terminus „vollkommen, vollendet". Zum „Vollkommenen
" findet sich an anderer Stelle bei Aristoteles, Meteor
. IV,3, ein Satz, der von mittelalterlichen Gelehrten oft
zitiert wurde: „Unumquodque perfectum est, quando potest
sibi simile facere'. Unter neuplatonischem Einfluß ist diese
Aussage über das Vollkommene im heterodoxen Aristotelis-
mus des Mittelalters dahin entfaltet worden, daß aus dem
göttlichen Ersten die Welt notwendig hervorgehe. Genau diese
Lehrnieinung steht dem christlichen Schöpfungsglauben diametral
gegenüber.

Wie allgemein bekannt ist, lehrt Thomas mit größter Entschiedenheit
die Freiheit des göttlichen Schaffens. Doch sei in
diesem Zusammenhang auch seine Trinitatislehre erwähnt, wo
er an einer Stelle (S. theoL I, 32,1 ad 3) erklärt, daß gerade
diese Glaubenswahrheit „den Irrtum jener ausschließt, die behaupten
, Gott habe die Dinge naturnolwendig hervorgebracht".

Die vier philosophischen Beiträge des Sammelbandes führen
Themen, wie sie bei Baur anklingen, in gelungener Weise weiter
. Eine ausgewogene, in sich geschlossene Darstellung der
vielschichtigen Freiheitsichre des Aquinalcn bringt Albert Zimmermann
(Der Begriff der Freiheit nach Thomas von Aquin).
Josef Pieper zeigt in seiner Abhandlung (Kreatürlichkeit. Bemerkungen
über die Elemente eines Grundbegriffs), wie Thomas
die biblische Schöpfungsichre in seiner Philosophie in all
ihren Konsequenzen durchgehalten und wie kaum ein anderer
zu Ende gedacht hat. Im „Erschaffensein" der Dinge wurzelt
u. a. sowohl deren prinzipielle Erkennbarkeit als auch deren
Unergründlichkeit. Als ein „geschaffenes" Wesen ist der Mensch
von Haus aus offen für göttliche Offenbarung, Glaubenkönnen
, Gnade und Sakrament. Gerade die Ausführungen von
Pieper lassen erkennen, wie sehr Schulbuchautoren nicht selten
die Weite des thomasischen Denkens verkürzt haben. Ludger
Ocing-Ilanoff (Gotteserkenntnis im Licht der Vernunft und
des Glaubens nach Thomas von Aquin) erörtert die schwierige
thomasische Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis und
deren Verhältnis zu der im Glaubenslicht gegebenen religiösen
Erfahrung. Wolfgang Kluxen (Metaphysik und praktische
Vernunft, über ihre Zuordnung bei Thomas von Aquin) behandelt
die von Thomas angestrebte Synthese von Philosophie
und Theologie und innerhalb derselben die Beziehung
von „Metaphysik" und eigenständiger „praktischer Vernunft".

Bübl-Neusatzcck Dietrich Schlüter

Farr, William: John Wyclif as legal Reformer. Leiden! Brill
1974. IX, 187 S. gr. 8° — Studies in the History of Christian
Thought, ed. by IL A. Oberman, X. Lw. hfl. 48,-.
Diese Veröffentlichung ist aus einer Dissertation erwachsen,
die von der University of Washington angenommen wurde.
Der Vf. will aufweisen, daß Wyclif weder ein Reformtheoretiker
war, der die Möglichkeit seiner Umwelt nicht kannte, noch
ein reiner Pragmatiker, der als Gegner des Papstes aus den
Verhältnissen seiner Heimat ein System machte. Der Vf. geht
daher dem Zusammenhang zwischen Wyclifs Theorie der Reform
und seinen Vorstellungen von ihrer Verwirklichung nach.
Dementsprechend hat die Arbeit zwei Teile. Zunächst wird
beschrieben, worin Wyclif das Ziel einer Reform sah (7—77),
danach, auf welche Weise er sie verwirklichen wollte (81 — 160).