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Ausgabe:

1976

Spalte:

548-549

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Von den Anfängen bis zum Fragmentum Muratorianum 1976

Rezensent:

Andersen, Wilhelm

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547

Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 7

Ö48

seinen Anfang nimmt. Gravierend habe dabei das unzulängliche
Kirchenverständnis der Reformation gewirkt,
die primär an die Rechtfertigung des einzelnen Menschen
dachte und „seine fundamentale Bindung an das Geschehen
der Kirche erst sekundär in den Blick bekam"
(S.39L). Verhängnisvoll habe sich außerdem Luthers
Verhältnis zur Mystik ausgewirkt. So habe sich in sein
Bußverständnis „der Rausch des Negativen" (S.48) gedrängt
, so daß er sich der theologia crucis verschrieb, die
nach Echternach die Gefahr impliziert, alles Schöne und
Erhabene einschließlich jenes Raumes, in welchem die
Ewigkeit Gestalt gewinnt, nämlich die Kirche, zu negieren
.

Luther habe sich ferner in seinem Kampf gegen die
spiritualisierende Erweichung der Sakramentenlehre
sehr massiv in die Gegenrichtung abdrängen lassen, und
ähnlich habe bei seiner Staatsauffassung eine „Überkompensation
" mitgewirkt, die zu seiner Reaktion auf die
Bilderstürme und den Bauernkrieg geführt habe (S.52).
Die Frage, ob Luther in diesem Sinne etwa als Wegbereiter
des „modernen, des totalen und immer totaler
werdenden Staates" (S.54) anzusehen sei, wird von
Echternach gestellt, jedoch offengelassen (so wie er auch
keine exakte Auskunft darüber gibt , was er selbst unter
dem von ihm perhorreszierten modernen Staat versteht).

Luthers Überkompensation mystischer und schwärmerischer
Denkweise habe andererseits zu „Einsichten
von urchristlicher Tiefe" (S.56) geführt. Ausgehend von
Luthers Sünden- und Gnadenlehre entwickelt Echternach
eine Ekklesiologie, die unseres Erachtens etwas in
die Gefahr gerät, in ein „totales" Kirchenverständnis abzuirren
. Er sieht einerseits richtig, daß Luther aus der
„Totalität der Sündhaftigkeit heraus" die „Totalität
der Gnade" erkannt habe, was ihn in den Stand versetzte
, getrost unter der Forderung des Ersten Gebots
leben zu können (S.67). In seinem letzten Kapitel
(„... als ökumenische Verheißung", S.71-95) versucht
er jedoch die konfessionellen Unterschiede auf eine I Geologisch
nicht ganz saubere Art zu überwinden. Das von
Gott gewirkte Geschehen werde zwar durch menschliche
Schuld immer wieder durchbrochen, aber so wachse
die Kirche ständig „unter dem Druck der Welt " (S.71).

Lehre und Ordnungsollen nach Echternach nicht als
zweitrangig angesehen werden, eher im Ernstnehmen der
Erbsündenschuld unter dem Anspruch des Ersten Gebots
sollte eine kirchliche Erneuerung, die zur ökumenischen
Einheit führt, stattfinden. Dazu sei eine Erneuerung
des Priestertunis in der evangelischen Kirc he
<>rforderlich. Denn: „Hinter der Scheindemut protestantischer
Prediger steht das Selbstbewußtsein des
humanistischen Gelehrten" (S.79).

Sicher ist es richtig, wenn Echternach eine echte Besinnung
auf das Wesen der Kirche, die sich gegen
destruktive Surrogatbildungen in der Gestalt aller
möglichen Modernismen richtet, fordert. Es ist auch
nichts dagegen einzuwenden, wenn der Duktus seiner
Arbeit mehrfach auf einen aktivierenden Imperativ, der
dem Indikativ der Heilszusage entsprechen müsse,
orientiert. Man muß aber doch fi ngen, ob nicht ein neuer
Synergismus initiiert wird, wenn sich der Imperativ,
wie es hier der Fall ist, auf einen überbetonten Liturgis-
mus und Sakralismus richtet.

Der von Echternach am Schluß seines Buches unternommene
„Versuch", Luthers klassische 95 Thesen
situationsgereeht für die heutige Zeit zu transformieren,
scheint mir wenig geglückt und auch nicht gerechtfertigt
zu sein (S.95ff.). Luthers Thesen können doch
wohl nur aktualisiert werden, indem man sie aus ihrem
historischen Anlaß heraus interpretiert und entsprechend
würdigt.

nilWlllll B«lll1l1ilil|| Ilso Bcrtinetti

Sand, Alexander: Kanon. Von den Anfängen bis zum Frag-
mentum Muratorianum. Freiburg-Basel-Wion: Herder
1974. VI, 90 S. gr. 8° = Handbuch der Dogmengeschichte,
hrsg. v. M.Schmaus, A.Grillmeier, L. Schoffczyk, Bd.I,
Fasz. 3a, l.Toil. DM 34,—.

Die Theologie der Heiligen Schrift, der im, l.Band des
Handbuches der Dogmengeschichte großes Gewicht zukommt
, beflißt sich ü) mit der Kanonfrage, b) mit der
Lehre von der Inspiration und c) mit dem Gesamtkomplex
der Hermeneutik. Die Teile b) und c) liegen
bereits vor und sind in dieser Zeitschrift angezeigt. A.
Sand, der auch an 1,1: „Die Offenbarung" mitgearbeitet
hat, ist der Verfasser der ersten Hälfte von 1,3 a:
Kanon.

Aus der Vorbemerkung sind folgende Äußerungen aufschlußreich
: Die ursprüngliche Absicht, „nur sachlich
referierend die einzelnen Fakten aufzuzeigen" (S. I). er
wies sieh sehr bald als nicht durchführbar. „Die Anfänge
der Kanonbildung sind nicht rein historisch zu
fassen" (ebd.). Sie spiegeln das geschichtliche Ringen um
das Bekenntnis für oder gegen Jesus von Nazarcth
wider. Dabei stellt sich das theologische Problem hieraus
, wie „aus der Autorität Jesu und der Apostel eine
Autorität der Schrift werden konnte, aufgrund welcher
Kriterien eine christliche Schriftsani in hing der jüdischen
Schriftsammlung hinzugefügt wurde und ihr
gegenüber eine größere, ja bald eine allein bestimmende
Autorität beanspruchte" (ebd.).

Von daher wird der Gedankengang der Studie ver
ständlieh. Sie beginnt mit einem kurzen Hinweis auf die
allgemeine Diskussionslage zum Kanonproblem, untersucht
dann den Begriff „Kanon" und wendet sich vor
allem den kanonspezifischen Termini wie graphein,
gramma, graphe, nomos, prophetai, biblos/biblion zu.

Das scheint mir ein sowohl historisch als auch systematisch
-theologisch gesehen hilfreicher Ansatz zu sein.
Denn so gelingt es, einen Entwicklungsprozeß von den
Anfängen her in den Blick zu bekommen, dessen Ergebnis
dann am Ende erst mit dem Begriff „Kanon" umrissen
wurde (vgl. S. 12).

Mit der Sorgfalt der Begriffsuntersuchung und der
historischen Rückfrage ist darum von Anfang an die
theologische Frage nach der Autorität Jesu und der
Apostel verbunden. Auf sie gibt Saud tn.E. die über
zeugende Antwort: Die Schriften der Juden, deren tiül
tigkeit als von Gott her gegeben vorausgesetzt wird,
sind „nicht mehr Autorität um ihrer selbst willen, sondern
nur noch in soweit Autorität, als sie die Autorität
des Messias und Christus zur Darstellung zu bringen in
der Lage sind" (S.23).

Für den Fortgang der Studie ergeben sich daraus die
stärker historisch bestimmten Kapitel, die mehr als die
Hälfte des Ganzen ausmachen: 2.Kap.: Die Entstehung
eines Kanons der jüdischen Schriften; 3. Kap.: Die Eni
stehung eines Kanons der christlichen Schriften. Nach
einem Abschnitt über die Apokryphen zum Neuen
Testament schließt die Studie mit einer systematischen
Besinnung über Kanon und kirchliche Autorität.

In den Ka])itelu 2 und 3 erweist Sand sich als ein
guter Kenner der Gesamtproblematik, der „motivgeschichtlich
" (S.41) nach Entwicklungszusanuneii-
hängen fragt. Die treibenden Kräfte bei der Entstehung
eine- jüdischen Kanon- -tieht er l. in der Krise nach der
Babylonischen Gefangenschaft, 2. in der Auseinandersetzung
mit den Christengemeinden und 3. in dein
Widerstand gegen das apokryphe jüdische Sc hrifttum.
Für die christlichen Gemeinden war nach Sand der entscheidende
Gesichtspunkt das Bewahren und Geltend-
iiiachcn dei Autorität Jesu. Sie waren zunächst nicht
ilarauf bedacht, eine eigene Schriftsammlung zu schuf"