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Ausgabe: | 1976 |
Spalte: | 372-373 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Allgemeines |
Autor/Hrsg.: | Bowker, John |
Titel/Untertitel: | The sense of God 1976 |
Rezensent: | Langer, Jens |
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Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 5
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getan hatte, kam es zur Zertrümmerung der Kirche,
nicht durch die Mißstände seihst. Es ist zweifellos richtig
, daß sich Luther erst durch die in der römischen
Kirche gegen ihn aufgestandenen Kräfte zum Reformator
hinaufentwickelt hat, wobei die gegen ihn getroffenen
Maßnahmen auf der einen und seine persönliche
Entwicklung auf der anderen Seile durchaus als
eine- Eskalation in gegenseitiger Bedingtheit angesehen
«erden müssen. Luther war aber niehl so ein „normaler
" Ungehorsamer, daß ihn die römische Kirche
überhaupt noch innerhalb ihres Toleruuzspiolraumos
hätte verkraften können, so wie sie es einst gerade noch
mit- Franziskus fertiggebracht hatte. So sieht denn
auch 15. in Luthers „revolutionärer Rückwendung" zu
den evangelischen Glaubenswahrheiten und seinem Angriff
auf die Autorität der Kirche den eigentlichen Kern
der Reformation, an den sich weitere Veränderungen
auf der Ebene der Territorien, des Reiches und der
Städte anschlössen. Dieso Veränderungen waren so
völlig neu und standen so sehr außerhalb jeder Tradition
, daß sie mit Recht als revolutionär bezeichnet
werden können.
Die Reformation habe nicht einfach eine schon
vorher im Gange gewesene Entwicklung abgeschlossen,
vielmehr zeigten sich in ihr Auffassungen und Maßnahmen
, die einen Bruch mit jeglicher spätmittelalterlicher
Tradil ion darsl eilten :
„Die Säkularisierungen in den Territorien standen
im krassen Widerspruch zur bisherigen Praxis des staatlichen
Kirchenschutzes und ließen überdies einen der
drei Landstände verschwinden, womit die gatize landständische
Ordnung des Spätmittelalters angegriffen
und geschwächt wurde."
„Die protestantischen Fürsten führten eine .Revolution
von oben' durch, indem sie ohne Rücksicht auf
traditionelle Rechte .im Namen einer höheren Gerechtigkeit
, der wiederentdeckten christlichen Wahrheit'
zu handeln meinten."
„Das Reich wurde nicht mehr als die Verkörperung
dos mittelalterlichen Universalismus angesehen und mit
der Person des Kaisers identifiziert, sondern galt nun
als aristokratische Korporation mit einem ganz neuen,
aus dem Gewissen abgeleiteten YYiderstandsrecht, wie
es 1529 in Speyer politisch wirksam wurde."
,,Dio Stadträte gründeten ihre informatorischen
Maßnahmen auf das Schriftprinzip, am der traditionellen
geistlichen Gerichtsbarkeit in einer revolutionären
Rechtsdeutimg die Gewalt der weltlichen Obrigkeit
entgegenzusetzen."
Diese Beispiele sollen hier für die vielen anderen Gedankengänge
st i'hen. in denen in sehr einsichtiger Weise
lihd mit viol Verständnis für das damals wirksam gewesene
subjektive Bewußtsein der Träger der Reformation
das Revolutionäre an ihr herausgestellt wird.
Damit ist nun allerdings ein neuer Zug in die moderne
katholische Reformationsgoschichtsschreihung gekommen
, der es ja gerade darum geht, Luther in eine durchaus
noch katholische Tradition hineinzustellen. B. hat
diese seino Position nicht ausdrücklieh artikuliert. Es
geht ihm in seiner Beweisführung auch gar nicht so sehr
um Luther und die Theologie, sondern vor allein um
die säkulären Kräfte um Luther herum, die sich den
gegebenen Anstoß zunutze gemacht und aus der Reformation
eine Revolution gemacht haben. So könnte
man die hier vorgefundenen Gedanken in dein Satz
zusammenfassen, Luthers Wirken sei der Anlaß und
zugleich die Rechtfertigung für die joder Tradition entgegenstehende
Entfaltung der weltlichen Gewalt, in der
bereits unausgesprochen der Gedanke der Staatsraison
zum Ausdruck kommt.
Hier entstehen sogleich neue Fragen. Was war nun
eigentlich die Reformation: die von Luther ausgegangene
theologisch-innerkirchlicho Neufassung oder die
Gesamtheit der damit in Beziehung .stehenden Erscheinungen
gesellschaftlich-politischer Art? Setzen die
tiefgreifenden weltlichen Strukturveränderungen notwendigerweise
die kirchliche Reformation voraus oder
sind sie ihrem Wesen nach so zwingend und eigen wert ig
gewesen, daß sie sich auch ohne sie früher oder später
ergeben hätten? Und liegt dann das Revolutionäre an
der Reformation im kirchlich-theologischen oder im
weltlichen Bereioh 7 Die anzuzeigende Schrift macht es
deutlich, daß die Reformation zwar ihren Ausgangs
punkt in Kirche und Theologie hatte, als historisches
Ereignis aber ihre im doppelten Sinne des Wortes ..unübersehbaren
" Wirkungen in den gesamten weltlichen
Bereich hinein gehabt hat und daß diese Wirkungen
als Teile jenes Ereignisses dastehen. Das Nachdenken
aber Wesen und Deutung der Reformation hat durch
die kluge Arbeit B.s dankenswerte Anstöße erhalten.
Friedewald, Kr. Dresden Karlheinz Hhischkc
SYSTEMATISCHE THEOLOGIE
Bowki-r, .lehn: Tlic Siminh of <Jod. Booiologioal, Vnthropolo-
gical and Psyohological Approochcs to the Origm of tho
Sense of God. Oxford: Clarendon Press; London: Oxford
Univorsity Press 1973. XIII, 237 B. 8°. Lw. £ 5.—.
In seinem Vorwort zitiert der Autor aus einem Gedieht
: Ein kleines Mädchen will so hinge um die Welt
reisen, bis sie jemanden findet, der genau den Ursprung
Gottes kennt. (Die Betonung liegt auf „genau".) Mit
semen Oxforder Wild'- Lectures von 1072 unternimmt
der am Corpus Christi College in Cambridge lehrende
Vf. selbst eine solche theologische Reise. Er gesteht
vorausschauend weise zu, daß sie nicht unbedingt erfolgreicher
sein muß als die des kleinen Mädchens.
Empirische Ergebnisse von Soziologie, Anthropologie
und Psychologie und daraus abgeleitete Theorien
bilden den Rahmen für Bowkers Untersuchungen. Das
prägt seine eigene Argumentation, die freilich niemals
Theologie mit den genannten Erfahrungswissenschaften
verwechselt. Wie sehr Bowker etwa auch soziologische
Einsichten über den Ursprung der Religion ausbreitet
und diskut iert, neigt er jedoch nicht dazu, nun einfach
den Gottesgedanken als Schöpfung der Umwelt zu verstehen
. Das Urteil ist abgewogen. Der Gebrauch der
Vokabel ..Gott'' ist eines, die Wirklichkeit Gottes ein
anderes. „Gott" verfüge z. B. — sagt der britische Vf. —
dort nicht Ober die gewünschte Realität, WO man m
„Gottes" Namen angebliche Glaubenskriege wie in
Nordirland führe. Die Wirklichkeil Gottes ist mehr,
als situatioiisbodingto Aussagen erkennen lassen. Diese
Haltung ist viel weiter von Apologetik in unserem
Sinne entfernt, als es die Kürze der Wiedergabe vielleicht
vermuten läßt.
In der Auseinandersetzung mit Dürkheim unter*
Streicht Bowker noch einmal, wie der soziokult uri lle
Kontext die Ausformung des Gottesglaubens bestimmt.
Selbstverständlich könne man /,. B. erst :!() p.Chr. n.
Christ werden, und natürlich beeinflusse eine hierarchisch
aufgebaute Gesellschaft die Gottesvorstellung
im hierarchischen Sinne. Doch wer dies als Soziologe
aufzuhellen vermag, bleibt doch noch im Vorfeld und
sagt nichts über den Ursprung von Religion.
Im Zusammenhang mit der Anthropologie erläutert
Bowker den für ihn wichtigen Begriff der „Begren-