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Ausgabe:

1976

Spalte:

264-266

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung als Freiheit 1976

Rezensent:

Holtz, Traugott

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Seite 1, Seite 2

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Schwergewicht bei dem liegt, was für die christliche Theologie
das Alte Testament ist. Für den Lehrer des Judentums bildet
es eine Einheit mit der nachbildischcn jüdischen Geschichte.
Zwischen der ersten Ausfnrmung seiner Gedanken und der
letzten Reifegestalt liegt eine das Lebenswerk begleitende Beschäftigung
mit geschichtsphilosophischen Fragen, mit Hegel,
Spengler, Bloch und zuletzt mit A. Toynbee, die es ihm erlaubte
, den Epochenbegriff tiefer zu fassen. Jede Periode jüdischer
Geschichte entsteht für ihn durch die Wiedergeburt
der im Ursprung enthaltenen Grundidee. Der Weg des Judentums
ist der Weg steten Neubeginns, immer wiederholter geistiger
Umwälzung.

Die beiden grundlegenden Perioden, die der Volkwerdung
und die des Kampfes um das Land und gegen das Land (Zeit
des Gesetzes und der Propheten) erfahren eine eigene durchreflektierte
Behandlung. „Die Geschichte beginnt mit einem
revolutionären Akt, mit einer Rebellion, die ihre Freiheit ergreift
" (S. 52) — so kann Baeck lange vor J. Moltmann das
Gründungsgeschehen des Exodus zusammenfassen. Daß ihm
gerade hier an der historischen Vergewisserung liegt, ist selbstverständlich
. Er glaubt sie von der Geographie („Geographie
wird nicht erfunden") und den Spezifika der Sprache her gewinnen
zu können. Vieles verdankt er anderen jüdischen Forschern
, nicht zuletzt E. Täubler, dessen Werk trotz des editorischen
Einsatzes von H.J.Zobel die verdiente Beachtung
versagt blieb. Bei der Behandlung der vielbesprochenen Ein-
zelfragen der Frühzeit Israels steht er eher am Rande des aktuellen
Diskussionsfeldes.

Dem dynamisch-revolutionären Verständnis des Ursprungsgeschehens
entspricht die Deutung der Propheten: sie sind
Fortselzer der religiösen und sozialen Revolution, die mit
Mose begonnen hat. Ihr entscheidende! Verdienst sieht Baeck
darin, daß sie die Religion slaatsunabhängig gemacht und das
Entstehen einer Staatsreligion und Staatsmythologie verhindert
haben. Ihre Charakterisierung als „religiöse Genies" überrascht
bei einem Denker, der einst eine ganze Linie christlicher
Theologie von Paulus bis zum Luthertum unter das
Verdikt der „romantischen Religion" (1922) stellte. Andererseits
offenbart sie die tiefe Verbundenheit des jüdischen Lehrers
mit der deutsch-idealistischen Geistestradition. Von ihr
geleitet konnte sich der Humanist Baeck die Gegenüberstellung
griechischer und israelitisch-jüdischer Religion und Geistesart
nicht versagen, die vom Vergleich der Eigenart der
Sprachen bis zur Konfrontation der Propheten und der griechischen
Denker reicht. Äußerlich ergeben sich dabei überraschende
Übereinstimmungen mit der Konstruktion der Achsenzeit
bei Knrl Jaspers (Ursprung und Ziel der Geschichte).
In der Reflexion schürft er tiefer, wenn er, ausgehend von der
Sprachgestalt des Hebräischen, die das Präteritum und Futur
nicht unterscheidet, in der prophetischen Botschaft die Zukunft
bis in die Gegenwart hineingepllanzt sieht.

Da wir es nicht mit einem durchgeführten geschichtlichen
Entwurf zu tun haben, gilt die Aufmerksamkeit der Schluß-
kapitel weniger den einzelnen Epochen, in denen jeweils eine
jüdische Wiedergeburt in geschichtlicher Realität Gestalt gewinnt
als dem Gegenüber des nachbiblischen Judentums. Daß
die Zeit der Ilalacha und dann wieder die der Aufklärung eine
solche Periode darstellt, wird deutlich, aber wichtiger ist der
Kontrast, der mit dem Eintritt des Christentums in die Welt
gegeben ist. Der Versuch, das Christentum als fortgeführte
Hellenisierung des Judentums zu verstehen, ist nur der re-
ligionsgeschichlliche Rahmen, von dem her ein letzter offen-
barungslheologischer Dissens um so greller hervortritt. In
scharfer Zurückweisung von Job. 1,14 heißt es: dag Judentum
hat keinen offenbarten, sondern nur den sich ständig offenbarenden
Gott. Er definiert es als Eingehen des Unendlichen
in die Welt des Vergänglichen in der Form des Gesetzes mit
dem Ziel der Einheit beider Sphären. El ist nur folgerichtig,
daß sich sein Einspruch vor allem gegen Augustiii und den
nicht immer gerecht behandelten Luther richten muß. Der
Calvinismus, den er als wichtigste Strecke der „Geschichte des
Judentums in der Kirche" begreifen möchte, erscheint im
günstigeren Licht, noch mehr die vom ihm geprägte geistige

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und politische Geschichte der angelsächsischen Länder, von
deren intimer Kenntnis manche Nebenbemerkung zeugt.

Es sollte zum Nachdenken anregen, daß als Fazit dieser
Epochenschau jüdischer Geschichte der Geist der Utopie als
Wesen des Judentums hervortritt. Der darin beschlossene
prophetisch-revolutionäre und zugleich zu gesetzhafter Konkretion
dringende Geist ist für Baeck auch als „Judentum in
der Kirche" die positiv geschichtslrächtige, der religiösen Romantik
entgegenwirkende Kraft innerhalb des Christentums.
Dabei darf nicht übersehen werden, daß auf der anderen
Seite der Waagschale die Kontingenz der Offenbarung und
die Unterscheidung von GoUcsrcieh und Welt zu liegen kommen
. Aus der Sicht eines seiner selbst bewußten Judentums
werden Alternativen aufgerissen, die uns aus der gegenwärtigen
theologischen und ökumenischen Diskussion nur zu vertraut
sind. Der Beitrag einer um die Tiefe der jüdischen Herausforderung
wissenden Theologie könnte gerade darin bestehen
, sich diesen Alternativen beharrlich zu verweigern.
Halle/Suale Wolfgang Wiefel

Derczanski, Alex: Le Judai'sme face ä Ia modernite. L'imagi-

naire ou la norme: hagada et halacha (Recherche de science

religicusc 63, 1975 S. 185-196).
Gero, Stephen: „My Son the Messiah": A Note on 4 Ksr 7.

28-29 (ZNW 66, 1975 S. 264-267).
Klein, M.: Elias Levita and MS Neofiti 1 (Bibl 56, 1975 S. 242

bis 246).

NEUES TESTAMENT

Wilckeus, Ulrich: Rechtfertigung als Freiheit. Paulusstudien.
Ncukirchen-Vluyn: Neukirchencr Verlag des Erzichungs-
vereins [1974]. 245 S. 8°. DM 28,-.

Der Sammlung vorangestellt ist ein Vorwort des Vf.s, in
dem die einzelnen Aufsätze knapp zusammengefaßt und in
das theologische Gespräch eingeordnet werden. Vier der dann
folgenden Arbeiten sind in fast der gleichen Form, in der sie
hier geboten werden, bereits erschienen, nämlich „Die Bekehrung
des Paulus als religionsgcsehichtliehcs Problem" (ZThK
56, 1959), „Die Rechtfertigung Abrahams nach Römer 4" (FS
G. von Rad, 1961), „Zu Römer 3,21-4,25. Antwort an G.
Klein" (EvTheol 24, [nicht 11, wie S. 50 angegeben], 1964)
und „Was heißt bei Paulus: ,Aus Werken des Gesetzes wird
kein Mensch gerecht'?" (EKK Vorarbeiten 1, 1969). Ein Aufsatz
ist aus dem Englischen übersetzt und überarbeitet, „Lukas
und Paulus unter dem Aspekt dialektisch-theologisch beeinflußter
Exegese" (FS P.Schubert, 1966). Zwei Studien
schließlich werden hier erstmalig vorgelegt, nämlich „über
Ahfassungszwcck und Aufbau des Römerbriefs" und „Römer
13,1-7".

Die Arbeiten, die bereits früher erschienen, sind jeweils als
wiohlige Beiträge in die Diskussion um die Themen, die sie
behandeln, eingegangen. Gerade darum allerdings ist ihre
Darbietung in der Weise wie hier nicht ganz ohne Probleme.
W. sieht bekanntlich als entscheidendes theologisches Geschehen
, durch das aus dem Juden der Christ Paulus wurde, den
Vorgang an, daß an die Stelle des apokalyptisch als heils-
geschichtliche Größe verstandenen Gesetzes das Christusgeschehen
getreten ist. Das als heilsgcschichtlichc Große verstandene
Gesetz hatte soeben vor Erscheinen des Aufsatzes über
die Bekehrung des Paulus D. Rößlcr (Gesetz und Geschichte,
1960) als ein wesentliches Element apokalyptischer Theologie
herausgestellt; auf ihn beruft sich W. Die Arbeit von Rößlcr
aber hat seitdem entscheidende Kritik erfahren. W. geht auf
diese Kritik S. 20 A. 9 denn auch ein und stimmt ihr weitgehend
zu, ohne aber auszuführen, wie dadurch nun seine
Interpretation der Grundstruktur der paulinisehen Theologie
modifiziert oder gar in Frage gestellt würde. Wohl aber setzt
der spätere Aufsatz über den Satz des Paulus, daß aus Werken
des Gesetzes kein Mensch gerecht wird, ein erheblich anderes
Gesetzesverständnis des Paulus voraus, das dem im

Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 4