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1976

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Kirchengeschichte: Alte Kirche

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199

Theologische Literaturzeitung 101. Jahrgang 1976 Nr. 3

200

KIRCHENGESCHICHTE: ALTE KIRCHE

Andresen, Carl: Die Kirchen der alten Christenheit. Stuttgart
-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer [1971]. XI, 760 S.
m. 26 Abb. gr. 8° = Die Religionen der Menschheit,
hrsg. v. C. M. Schröder, 29, 1/2. Lw. DM 98,-.
Der Rezensent bedauert sehr, daß er die Ausarbeitung
dieser Besprechung zweimal auf lange Zeit unterbrechen
mußte, und bittet um Nachsicht für die verspätete Anzeige
dieses Buches. Dessen Anlage und Bedeutung scheinen
ihm aber auch jetzt noch die ausführliche Anzeige
des Inhalts zu fordern, da ohne sie eine angemessene
Würdigung nicht möglich ist.

In der Einleitung begründet und erklärt A., daß er seine
Darstellung als „ekklesiologische Typengeschichte" abgefaßt
hat. Zunächst grenzt er diesen Begriff von dem
der „kirchenhistorischen Morphologie" ab: Mit ihr teile
seine Darstellung zwar die morphologische Analyse des
Stoffes im Detail, aber sie gehe mit der Frage nach der
geschichtlichen Kontinuität entschieden über jene hinaus.
Denn der Vf. will nicht einzelne historische „Gestalten"
„asynthetisch" nebeneinanderstellen, sondern zu „Typen
" vordringen.

In einer zweiten Abgrenzung unterscheidet er die ekklesiologische
Typengeschichte von der soziologischen Typologie
. Für diese orientiert er sich an M. Weber und vor
allem an E. Troeltsch. Webers Typusbegriff erscheint ihm
für die „Anwendung in einer darstellenden Kirchengeschichtsschreibung
" ungeeignet. Dagegen hat Troeltsch
selbst schon innerhalb der Kirchengeschichte Typen unterschieden
, und zwar nach A. den frühkatholischen,
reichskirchlichen, landeskirchlichen und andere Typen.
Aber wenn man dafür bei Troeltsch Belegstellen sucht
— A. nennt selber keine —, gerät man in Verlegenheit.
Denn Troeltsch spricht zwar z. B. von einer landeskirchlichen
Periode und einem landeskirchlichen Prinzip (Soziallehren
195f.), gebraucht aber, soviel ich sehe, bei diesem
und den entsprechenden Phänomenen nicht den Begriff
Typus, um dessen Bestimmung es doch in diesem
Zusammenhang geht. Daß diese kleine Beobachtung nicht
belanglos ist, wird gewiß, wenn man bedenkt, wo
Troeltsch nun wirklich das Wort Typus benutzt hat. Es
geschieht in der bekannten Unterscheidung der drei
Haupt- oder Grundtypen Kirche, Sekte und Mystik innerhalb
der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen
Idee. (Die hierzu angeführten Zitate stammen
übrigens nicht aus dem von A. genannten Aufsatz „Das
christliche Naturrecht", sondern aus dem in den Ges.
Schriften Band 4 unmittelbar folgenden Aufsatz „Das
stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane
Naturrecht".)

Als Theologe bringt A. nun gegenüber der soziologischen
Typologie die grundlegende Bedeutung der christlichen
Ekklesiologie (im folgenden = Ekkl.) — und damit
die Eigengesetzlichkeit christlicher Kirchlichkeit (S. 14) —
kräftig zur Geltung. An zwei interessanten Beispielen
macht er anschaulich, wie sich das kirchliche Selbstverständnis
nicht aus sich heraus, sondern in einer dialektischen
Beziehung zwischen bekenntnismäßigen Selbstdeutungen
der Kirche und äußeren, geschichtlichen Kräften
wandelt. Erst in dieser Begegnung formt sich der
„Typus", der in der folgenden Darstellung gemeint ist
(S. 10 oben). Es ist dankenswert, daß der Vf. auch auf gewisse
Grenzen seiner Methode hinweist. Um die typischen
Merkmale deutlicher herauszuarbeiten, wird er
sie nicht dort erörtern, wo sie zuerst auftreten, sondern
dort, wo sie zum Tragen kommen. Er gesteht offen ein
(S. 15), „daß die typengeschichtliche Methode nicht der
Kontinuität der Geschichte und vor allem ihrer Übergänge
gerecht werden kann". Deshalb soll der Leser diese
Methode — und ebenso einige Hauptbegriffe — in der nun
zu betrachtenden Darstellung selber als Arbeitshypothese
verstehen. Auf die methodologische Problematik
werden wir nach einem Gang durch die fünf Hauptteile
des Buches zurückkommen müssen.

Der erste Hauptteil dieser ekklesiologischen Typengeschichte
heißt „Die frühkatholische Kirche". Die zeitliche
Schwelle der Darstellung wird nicht ausdrücklich angegeben
; sie liegt praktisch beim Beginn des nachapostolischen
Zeitalters. Der Leser muß sich daher selber daran
erinnern, daß innerhalb der Reihe „Die Religionen der
Menschheit" ein Band über das Urchristentum vorausgeht
. A. setzt bei dem Thema „Kirchliche Situation und
kirchliches Selbstverständnis" ein. Er stellt zwei Hauptformen
der Ausbreitung einander gegenüber: die Wirkung
in die Ferne, welche isolierte, oft weit voneinander
entfernte Stadtgemeinden schafft, und die zu regionalen
Ballungszentren führende Ausbreitung im näheren Umkreis
. Dabei erweist sich, daß die griechische Koine für
diese hemmend, für jene günstig war. Nachdrücklich betont
A. die enge Zusammengehörigkeit des Christentums
mit dem synagogalen Judentum. Er geht darin so weit,
daß er im 1. Jh. keine spezifisch „christliche" Gruppenbildung
anerkennt (S. 18 Anm. 4). Ausgezeichnet ist es,
wie die Bedeutung der Ausbreitungsgeschichte für das
Selbstverständnis dieser frühen Christenheit aufgezeigt
wird. Trotzdem kann man fragen, ob „Kirche in der Diaspora
" (S. 27) wirklich der treffendste Ausdruck für dieses
Selbstverständnis ist. Denn es wäre doch zu bedenken
, ob nicht vorwiegend die eschatologische Naherwartung
zum raschen missionarischen Ausgreifen in die
Ferne (genauer gesagt, nach den besonders wichtigen
Verkehrszentren) gedrängt hat und soziologische Daten
daneben lange Zeit wenig Gewicht besaßen.

Daß sich die frühkatholische Christenheit trotz des von
A. scharf herausgearbeiteten Diaspora-Bewußtseins als
Einheit wußte, verdankte sie der lebendigen apokalyptischen
Erwartung (I, 2). Sie bewährte diese Einheit in
gewissen festen Einrichtungen, namentlich dem Briefverkehr
. Seinem Formenwandel (Diaspora- oder Gemeindebriefe
, Festbriefe, bischöfliche Schreiben) gilt das besondere
Interesse des Vf.s. Das Verständnis wird auch hier
durch sorgfältige Beachtung jüdischer Entsprechungen
und Vorbilder (etwa des Ps.-Baruch-Briefes) gefördert.

Der Abschnitt über „Verfassungsformen und Gemeindeleben
" (I, 3) zeigt an wichtigen Beispielen auf, wie die
dem Frühkatholizismus gemäße presbyteriale Verfassung
meist schon in einer Verschmelzung mit Zügen der
episkopalen Ämterordnung auftritt, die erst den Altkatholizismus
(II) kennzeichnet. Vielleicht wird mancher
Leser bedauern, daß er öfter den kirchengeschichtlichen
Ertrag der herangezogenen Quellen erst selbst aus den
sehr ins einzelne gehenden klugen stil- und formgc-
schichtlichen Erörterungen herausziehen muß. Manche
Stellen lesen sich wie Stücke aus einem Kommentar zu
der betreffenden Schrift. — Auch in den folgenden Abschnitten
über Gottesdienst und Frömmigkeit und über
die Krise des Frühkatholizismus (I, 4 u. 5) erweist sich die
strenge Ausrichtung auf die soziologische Fragestellung,
d. h. hier, die diasporale Ekkl., als sehr fruchtbar. Sie
wirft auf manches Bekannte neues Licht und führt zu vielen
neuen Beobachtungen und Urteilen (z. B. beim Häresiebegriff
und der Onoma-Taufe, zu der noch kein Bekenntnis
des Glaubens gehört). In der frühkatholischen
„Observanzfrömmigkeit" wehrt A. mit Recht die vorschnelle
Feststellung einer „Moralisierung" des Christentums
ab; die betreffende Erscheinung drücke vielmehr
eine kirchliche Gesamtverantwortung des einzelnen
aus. Andererseits bringt der Begriff „religiöser Konformismus
" (S. 92) wohl eine nicht ganz angemessene
moderne Erwartung in das Bild der frühkatholischen
Frömmigkeit.

Sehr gut gelungen scheint mir das abschließende Kapitel
über die Krise des Frühkatholizismus durch Gnosti-