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Ausgabe:

1975

Spalte:

151-153

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baker, William H.

Titel/Untertitel:

Worthy of Death 1975

Rezensent:

Spiegel, Yorick

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 2

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werden hinfallig, geht gerade an der Wirklichkeit vorbei,
die sie so gerne berücksichtigen möchte" (S. 165).

Unter Rückgriff auf die von ihm getroffene Unterscheidung
von Agape und Philia konkretisiert van Oyen: „Die
Norm soll dem Leben dienstbar sein, eine Hilfe, eine Anleitung
, ein Paradigma. Nur kann das Leben selber nie
normativ sein, das wäre das Chaos! ... An diesen Problemen
stößt nun das christliche Ethos in das Seelsorger-
liche vor, wie oft in meinen Vorlesungen betont wurde.
Es sieht nicht Normen, sondern Menschen an. Der Ethiker
wird ohne Seelsorge zum Moralisten" (S. 168).

In dem Aufsatz „Die Freigabe des Abortus in ethischer
Sicht" aus dem Jahre 1971 setzt sich van Oyen nachdrücklich
mit fragwürdigen Begründungen der Freigabe auseinander
. Eine Beseitigung des „gereiften Ungeborenen"
wird entschieden abgelehnt, weil das „mit den Grundlagen
der ärztlichen Ethik im radikalen Widerspruch
steht und insofern auch mit den moralischen Voraussetzungen
unserer Kultur kollidiert. Anders steht es i n
den ersten 3 Monaten nach der Nidation.
Freilich wird man sich auch hier sagen müssen, es seien
bereits alle genetischen Formationen zum vollen Mensch-
sein vorhanden. Doch ist der Anfang von so vielen Seiten
bedroht, daß ein ungestörtes Aufwachsen noch lange nicht
garantiert ist" (S. 209). Als ultima ratio möchte van Oyen
in diesem frühen Stadium eine durch ein ärztliches Gremium
abgesicherte Interruptio zugestehen, denn „dort,
wo eine Frau unter schwerem physischem und psychischem
Druck steht, kann es eine Tat der Nächstenliebe
sein, ihr zu helfen" (S. 209).

Berlin H.-H. Jenssen

Baker, William H.: Worthy of Death. Capital punishment
— unpleasent necessity or unnecessary penalty? Chicago
: Moody Press [1973]. 158 S. 8° = Moody Evangeli-
cal Focus. $ 2,25.

Recht oder Unrecht der Todesstrafe ist für die meisten
Staaten, zumindest soweit es sich um aus persönlichen
und nicht aus politischen Gründen begangene Tötungsdelikte
handelt, keine umstrittene Angelegenheit mehr;
auch für die USA hat der Bundesgerichtshof in seinem
Urteil vom 29. Juni 1972 die Todesstrafe als „grausame
und ungewöhnliche" Bestrafung bezeichnet und (gegen
die Stimmen der von Nixon eingesetzten Richter) den
Vollzug der Todesstrafe solange ausgesetzt, als die einzelnen
Bundesstaaten nicht übereinstimmend eindeutige
Tatbestände festlegen, gegen die die Todesstrafe verhängt
wird. Die immer stärker werdende Entwicklung
nach rechts hat aber insbesondere angesichts der ständig
steigenden Tötungsdelikte in den Vereinigten Staaten die
Diskussion um die Todesstrafe wieder aufflammen und
in einigen der 15 Bundesstaaten, die die Todesstrafe abgeschafft
hatten, zu deren Wiedereinführung es kommen
lassen; letzteres geschah, ohne daß die vom Bundesgerichtshof
geforderte Klärung eingetreten ist.

W. H. Baker, Professor an dem Philadelphia College
of the Bible, vertritt die theologische Richtung, die ideologisch
dieser Entwicklung angemessen ist. Sie läßt sich
beschreiben als eine enge Verbindung zwischen Biblizis-
mus und Konservatismus, verbunden mit einer statischen
Zwei-Reiche-Lehre, die den Staat das biblische Gesetz,
die christliche Individualmoral das Evangelium vertreten
läßt. Die Ursache der steigenden Kriminalitätsrate
bedarf für ihn keiner umfassenden Erforschung, sie ist
klar: „Die gegenwärtige Lage der Dinge, bei der die Gesetzlosigkeit
einen historischen Höhepunkt erreicht hat,
ist allein das Ergebnis des menschlichen Versagens, die
biblischen Lehren über Gerechtigkeit zu achten" (146/7);
„der Verlust eines klaren Konzeptes von der Gerechtigkeit
im modernen Denken ist teilweise die Ursache für
das Anwachsen von Verbrechen ... Die Nation bringt die

Ernte einer nachgiebigen Haltung und des Verlustes der
biblisch begründeten Gerechtigkeit ein" (88).

Diese Gerechtigkeit ist festgelegt in absolut gültigen
Geboten, die nicht unserem privaten oder dem gesellschaftlichen
Interesse entspringen, sondern in uns dank
eines „Gesetzes der Natur" (80) angelegt und in den biblischen
Geboten fixiert sind; sie stellen eine Summe göttlicher
Gesetze dar, die nicht auf eine höhere Rechtssystematik
oder Funktionalität hin reflektiert werden. Das
mosaische Gesetz, Jesus und die Apostel, sie alle sprechen
völlig selbstverständlich von der Berechtigung der Todesstrafe
; nichts verrät bei Paulus, daß die Aufhebung
des Gesetzes durch Christus die Todesstrafe einschließt;
denn es ist ein „Gesetz, das vor Mose gegeben wurde".
Biblischer Ausgangspunkt ist und bleibt Gen 9,6: „Wer
eines Menschen Blut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen
werden, denn Gott hat den Menschen zu seinem
Bilde gemacht". Vor diesem Gebot verfängt nichts, weder
die Heiligkeit des Lebens noch die Irreversibilität dieser
Strafe, weder die nachweisliche Unwirksamkeit der Abschreckung
noch die Aufforderung, zu vergeben; da in
der Welt und der Umwelt der biblischen Schriften die
Todesstrafe eine unbestrittene Selbstverständlichkeit ist,
lassen sich leicht die biblischen Stellen als nichtzutreffend
abweisen, auf die die Gegner der Todesstrafe sich
berufen.

Uber den Unsinn, sich ohne jedes historische Bewußtsein
auf Bibelstellen zu berufen, ohne selbst die eigene
theologische Haltung sichtbar zu machen, die die Auswahl
dieser Bibelstellung bestimmt, braucht nichts weiter
gesagt zu werden. Wichtig scheinen mir die schwachen
Stellen heutigen theologischen Denkens zu sein, in die ein
solcher Archaismus einbrechen kann. Einmal ist im dogmatischen
Denken weitgehend ungeklärt geblieben, wieweit
sich eine Vorstellung wie die der Wiederherstellung
der Gerechtigkeit Gottes durch den Tod Christi in einer
Gesellschaft, die die Todesstrafe nicht als geeignetes
Mittel zur Erhaltung der Rechtsordnung ansieht, erhalten
kann. Daß solche Aussagen nicht längst ihre Aussagekraft
verloren haben, liegt vermutlich an ihrem Fortwirken
in den archaischen Schichten des Unbewußten,
aus dem sie wieder hervortreten, wenn die gesellschaftliche
Ordnung regrediert und primitivere Formen annimmt
. Zum anderen bedarf es einer vertieften Begründung
der ja sicher von der Christentumsgeschichte nicht
unabhängig zu denkenden Entwicklung, die Aggressionshemmung
zu verstärken und zumindest die rechtliche
Absicherung der körperlichen Integrität immer weitgehender
als ein Naturrecht des Individuums festzuhalten,
das auch Vorrecht vor dem staatlichen oder gesellschaftlichen
Sicherungsinteresse hat. Immerhin hat der Begründer
der Quäker, George Fox, in seinem Gefängnisaufenthalt
1650 51 die Unhaltbarkeit der Todesstrafe erkannt
und in der Folgezeit sich immer wieder gegen sie
gewandt. Aus welchen Gründen auch Beccaria in Italien,
Rousseau und Voltaire in Frankreich, Savigny und Marx
in Deutschland, Hume und Bentham in England und
Franklin und Paine in den Vereinigten Staaten die Abschaffung
der Todesstrafe gefordert haben, theologisch
gilt es, diese Tendenz auf den Abbau der körperlichen
Bestrafung zu akzeptieren und zu vertiefen.

Man könnte dieses Buch als Kuriosum beiseite schieben
, wenn es nicht zwei gesamtgesellschaftliche Tendenzen
befördern würde, die mir als außerordentlich gefährlich
erscheinen. Im Zusammenhang der abschreckenden
Wirkung der Todesstrafe gesteht Baker zu, daß die Statistiken
keinen Zusammenhang von Todesstrafe und
Häufigkeit von Mord aufweisen. Aber, so fährt er fort,
gibt es andere Faktoren, die eventuelle Mörder abschrek-
ken; dies alles ist miteinander verwoben und wissenschaftlich
nicht nachprüfbar (113). Mit anderen Worten:
Die Ursachen für Mord sind so komplex, daß man sich