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Ausgabe:

1975

Spalte:

74-76

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kaltenborn, Carl-Jürgen

Titel/Untertitel:

Adolf von Harnack als Lehrer Dietrich Bonhoeffers 1975

Rezensent:

Becker, Ingeborg

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 1

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Grundlegung der Ethik gewinnt B. durch den Einsatz
bei der durch Christus bezeichneten Wirklichkeit eine
breite Basis für fällige Konkretionen. Die geniale Unterscheidung
von letzten und vorletzten Dingen, die beide
ihren Grund und ihren Zusammenhang in der Menschwerdung
Christi haben, gibt zusätzlich die Möglichkeit,
den Anspruch des Gebotes zu differenzieren. Wie auf
dem Gebiet der Ethik, so geht B. auch bei der Interpretation
biblischer Begriffe weit über die Position der
liberalen Theologie hinaus, weil bei ihm die religiösen
Voraussetzungen entfallen und er von vornherein auf die
unmögliche Synthese von christlicher Verkündigung
und moderner Weltanschauung verzichten kann. Wodurch
die Aufgabe freilich nicht leichter wird!

ad 3. Die Beiträge von Wilhelm Dantine über „Säkularisation
" und Eberhard Bethge über „Mündigkeit"
sind zweifelsohne die gewichtigsten. Außer der Thematik
ist beiden gemeinsam, daß sie wesentlich über den bei B.
vorfindlichen Bestand hinausgehen. Es ist fast so etwas
wie ein geistesgeschichtlicher Glückstreffer, daß B. in
der ganzen intellektuellen .und moralischen Beanspruchung
durch Widerstand und Haft auf Düthevs
Arbeiten über das Phänomen der Säkularisation oder,
wie B. sich lieber ausdrückte, der Mündigkeit stieß. Alle
tiefgründige Behandlung dieses Phänomens hatte bis
dahin seinen Dornröschenschlaf nicht verhindern können
. Bis B. es, wenn auch nur fragmentarisch, aufnahm
und eine so stürmische Entwicklung einleitete, daß eine
ganze Epoche von daher ihren Namen bekam.

Bei Dantine geht es um die Frage, welche Veränderungen
Säkularisation und Glaube in der Begegnung
miteinander erfahren. Keiner kann bleiben, wie er vorher
war. Der Glaube bekommt ein neues Gesicht, die
Säkularisation neuen Inhalt und neues Gefälle. Für
den Glauben bedeutet es zunächst einen dreifachen
Verzicht: auf Gott a) als Mittel der Weltcrklärung; b) als
Mittel der Existenzsicherung durch Jenseitsbezug;
c) Verzicht auf eine christlich-thcistische Weltanschauung
mit der Funktion einer Ideologie nach der Definition
Diltheys. Zur Beschreibung der an der Säkularisation
erfolgten Veränderung bedient Dantine
sich der Gogartenschen Unterscheidung von Säkularisierung
und Säkularismus. Letzterer ist eine atheistische
Ideologie, Säkularisierung dagegen ein offener
Prozeß ohne alle ideologischen Ambitionen, daher offen
für den Glauben an Christus.

Als schwache Stelle in Dantines Argumentation erscheint
mir der unter b) genannte Verzicht. Daß „für
den Glauben das echte Wagnis der verunsicherten Entscheidung
zurückgewonnen" werden müsse (S.74), ist
mir zu heroisch, mehr Kierkegaard als Bibel. Welchen
Sinn und Wert kann dann eigentlich noch das ungezählte
Male in den Psalmen vorkommende „ich hoffe auf
dich" haben? Ein bißchen mehr Barmherzigkeit würde
sowohl der Sache als auch dein Menschen dienlich sein.
Dagegen ist mit voller Zustimmung zu akzeptieren, was
Dantine über das neu zu gewinnende Verständnis von
Schöpfung (Zukunftsauftrag statt Fixierung auf ver-
gangene Schöpfungsakte) und über den Weltbezug des
Glaubens sagt (gegen Bultmanns mysteriöse „Entwelt-
lichung"),

Betilge behandelt den Stellenwert von Mündigkeit
in Theologie und Kirche in einer Weise, daß man sich
vom eisten Satz an in einen Prozeß hineingezogen sieht,
der von Bonhoeffer initiiert, aber nun kräftig vorangetrieben
werden muß. Der Vortrag weist uns. wie maßgeblich
Bethge an diesem Geschäft beteiligt ist. ..Mündige
Sohnschaft" (Gal 1.4 u. Köm 8,IT)) ist für ihn eine
der großen Angebote des K va ngel in ms. durchaus gleichrangig
mit „Reich Gottes". ..Heil"" und „Erlösung". Di r
biblische Komplex Gebot und Gehorsam darf nicht zu

einer Gehorsamsmentalität pervertiert werden. „Gebot,
Gehorsam und Strafe ... sind keine Selbstwerte in sich,
sie haben ein Ziel: freien Lebensrauin möglich zu machen
" (S.Gl). Biblisch ist es genau unigekehrt wie in
einer jahrhundertealten, bis zur Stunde herrschenden
kirchlichen Praxis: Nicht der Drang nach Mündigkeit,
sondern ihre Bestreitung und Verweigerung, individuell
und gesellschaftlich, versündigt sich am Evangelium.
Bethge gibt drei anthropologische und geistesgeschichtliche
Merkmale von Mündigkeit. Sie gehört 1. zur Kategorie
der Menschenrechte, für Einzelne und für Gruppen
. Von ihr ist nicht erst bei konstatierbarer Reife zu
sprechen. Sie ist ein Prozeß, kein Zustand, angelegt auf
Reifen im Sinne von zuwachsenden Verantwortungs-
fähigkeiten. Zur Mündigkeit gehört 2. der Akt der Zu-
erkennung. Sie ist ein soziales und kein individualistisches
Phänomen im Sinne von frei ausgelebter
Selbstbestimmung. Sie bedarf der Vorgabe von Vertrauen
auch bei noch nicht feststellbarer Reife. Menschen
gegen ihren Willen in Unmündigkeit zu halten
bedeutet nicht nur ein Affront gegen diese Menschen,
sondern auch gegen die Präsenzfähigkeit des Evangeliums
. Mündigkeit ist 3. auf ihre ständige Gefährdung
zu beobachten. Diese Gefährdung resultiert zum nicht
geringsten Teil - und das macht sie so verführerisch -
aus Überlegenheit an Information und Sachverstand.

Zum Ganzen: Für den Christen ist Mündigkeit christusbestimmt
. Also heteronom? Ohne Frage! Wobei a bei
zu bedenken ist, daß absolute Autonomie eine absolute
Konstruktion und absolut weltfremd und lebensfeind-
lich ist. „Unsere Mündigkeit verdankt sich dem, der
Macht hat te, total ohnmächtig zu werden, damit andere
ihrer selbst mächtig weiden könnten" (S.68).

Vom Herausgeber hätte man gern Präzisieres darüber
erfahren, wer, wo, wann, mit wem zusammen referiert
hat ; und im Blick auf den Leserkreis auch die nötigsten
Angaben zur Person. Der Zingsthof war nicht Bonhoef-
fers „zweite illegale Wirkungsstätte" (S.8), sondern ein
kurzes Präludium zu Finkenwalde.

Köln Otto Dgdxns

Kaltenborn, Carl-Jürgen: Adolf von Harnack als Lehrer Dietrich
Bonhoeffers. Berlin: Evang. Verlagsanstalt [1973J.
184 S. 8° = Theologische Arbeiten, unter Mitarb. v.
E.Fascher, A.Jepsen, F.Lau. O.Haendler, E.Schott hrsg.
v. H. Urner, XXXI. Kart. M 13,—.

Kaltenborn schließt mit seiner Arbeit eine Lücke in
der Fülle der Bonhoeffer-Literatur. Die verschiedenen
Einflüsse liberaler und dialektischer Theologie auf
Bonhoeffer sind zwar immer gesehen und beachtet win den
, aber K. kann aufweisen, wie nachhaltig B. durch
seinen Lehrer Harnack in seinen Problemstellungen sein
Leben hindurch bestimmt worden ist. Das ist K. vor
allem dadurch ermöglicht worden, daß er bisher unveröffentlichtes
Material aus dem Nachlaß von Harnack,
insonderheit Briefe, heranziehen und bearbeiten konnte.
Die Harnack-Literatur wird in der zwei Drittel des
Buches ausmachenden Darstellung von Harnacks Denken
und Handeln in seiner Zeit um kleine interessante
Züge bereichert. Ob es dabei geschickt und notwendig
war, den Abschnitt A. „Adolf von Harnack in seiner
Zeit" der Auseinandersetzung mit dem Denken H.8
(Abschnitt B) vorzuordnen, bleibe dahingestellt. Briefzitate
und kurze Auszüge aus Artikeln und Vorlesungen
reichen nicht aus, um theologische und allgemein wissenschaftliche
Überzeugungen, die bestimmten Stellungnahmen
zugrunde liegen, genügend kenntlich zu
machen (z.B. S. [6 und 23), und man ist auf diese Weise