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Ausgabe:

1975

Spalte:

71-74

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Kirche für andere 1975

Rezensent:

Dudzus, Otto

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71

Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 1

Welt lebt. Er darf sich nicht in sein Amtszimmer zurückziehen
, weil er seine Aufgabe als Interpret der biblischen
Botschaft nur im persönlichen Kontakt mit den Menschen
innerhalb und außerhalb der Gemeinde erfüllen
kann" (S.65). Dem Hausbesuch kommt daher eine hohe
Bedeutung zu. Leider lerne der angehende Pfarrer
während seiner Ausbildung kaum „Gemeindeglieder in
den hermeneutischen Prozeß einzubeziehen, sie zum
Verstehen und Verständlichmachen zu befähigen, also
,Mitinterpreten' zuzurüsten. Das wird nicht gelingen,
wenn der Pfarrer als der Fachmann für die Interpretation
der Bibel gilt" (S.65). Im übrigen wird darauf verwiesen
, „daß die Mehrzahl der Gemeindeglieder vom
Pfarrer nicht primär die Interpretation biblischer Texte
n wartet", sondern Seelsorge im Sinne helfender Begleitung
und emotionalen Beistandes in Krisensituationen
und an Knotenpunkten des Lebens (S. 65/66), womit
übrigens die berechtigten Erwartungen der Gemeinde
auch noch nicht einigermaßen umfassend beschrieben
sein dürften.

Das Buch erfreut durch eine Fülle anregender Gedanken
, die hier nur bruohfltückhaft angedeutet werden
konnten, und ein bei allem Eintreten für den eigenen
Standpunkt stets abgewogenes Urteil, dem man abspürt
, daß der Autor im ständigen persönlichen Gespräch
mit Theologen und Pfarrern der unterschiedlichsten
Standpunkte steht. Man wünscht dem Buch
viele Leser gerade auch unter den Pfarrern im Amt.

Jterliii H.-H.Jenssen

Pabst, Walter [Hrsg.]: Kirche für andere. Vorträge und An
■Hachen im Bonhoeffer-Uedenkjahr 1970. Berlin: Evang.
Verlagsanstalt T1973]. 102 S. 8°. Pp. M 6,—.

Ungefähr alle Möglichkeiten, sich heute mit Bonhoef-
fer zu befassen, sind im vorliegenden Buch vertreten:
1. der Versuch, B. zu verstehen, Zusammenhänge in
einem scheinbar disparaten Denken herauszufinden.
Schwerpunkte und Zielrichtungen zu erkennen und auf
ihre Bedeutsamkeit für die Gegenwart zu befragen; 2.die
theologiegeschichtliche Einordnung mit der Frage, ob die
Theologie durch B. möglicherweise an einem zentralen
Punkt aus einer Sackgasse geführt und nicht unwesentlich
bereichert worden ist; 3. der Versuch, von Bonhoeffer
aus weiter zu denken und bestimmte Komplexe in
Theologie, kirchlichem Handeln und darüber hinaus in
der Zeitgeschichte (das ist für die Theologie immer noch
die Stunde der Wahrheit gewesen) in Bewegung zu
bringen.

ad 1. Hierher gehören die Beiträge von Albrecht
Schönherr und Martin Kuske. Schönherr geht es
um die Auslegung eines einzigen Bonhoeffer-Satzes:
„Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen:
Im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen."
Der ganze Vortrag ist ein gutes Beispiel, wie lohnend es
sein kann, sich auch für einen großen Komplex auf einen
Gesichtspunkt zu konzentrieren. Der Komplex, der in
Frage steht, ist die Glaubwürdigkeit christlicher Existenz
. Sie wird nicht gewonnen durch starres Festhalten
erreichter Positionen. Welch souveräne Dynamik hier
bei B. vorliegt, zeigt eine Passage, an die ihrer bezwingenden
Schönheit wegen nicht oft genug erinnert werden
kann: „Auf unsere Privilegien werden wir gelassen und
in der Erkenntnis einer geschichtlichen Gerechtigkeit
verzichten können. Es mögen Ereignisse und Verhältnisse
auftreten, die über unsere Wünsche und Rechte
hinweggehen. Dann werden wir uns nicht in verbittertem
und unfruchtbarem Stolz, sondern in bewußter
Beugung unter ein göttliches Gericht und in weitherziger
and selbstloser Teilnahme am Ganzen und an den
Leiden unserer Mitmenschen als lebensstark erweisen"
(S.21). Nur im Kontext solcher Existenz könnte die
Christenheit eine Sprache von solcher Effizienz gewinnen
, „daß sich die W elt darunter verändert and er
neuert". Für- eine ganze Zeit, wird es aber nötig sein, die
großen Worte christlicher Verkündigung zu meiden. In
(liesein Moratorium ist Beten und Tun des Gerechten die
Sache der Christen. Schönherr macht in Auseinandersetzung
mit dem sowjetischen Gelehrten Ü.M. Ugrino-
witsoh auf der einen und dem amerikanischen „Tod-
Gottes-Theologen" W.Hamilton auf der anderen Seite
deutlich, wie alles Auseinanderreißen dieser beiden Dinge
nicht nur an B. vorbeigeht, sondern beides verdirbt.
Das Tun des Gerechten muß Schaden nehmen ohne
Gebet. Das Gebet nujß zur Selbsttäuschung werden,
wenn es nicht eingebettet und ausgerichtet ist auf Vcr
antwortung in der Welt-. In einem ausführlichen 2.Teil
ordnet Schönherr diese Bestimmtheit christlicher
Existenz in den weiten Zusammenhang der Vision eines
religionslosen Christentums ein und definiert sie des
näheren als ein Dasein für andere in Gemeinschaft und
Nachfolge Christi, dessen Hoheit gerade darin besteht,
der Mensch für andere zu sein.

Martin Kuske untersucht in fast scholastisch anmutender
Penibilität die Bedeutung der ekklcsio
logischen Bemerkungen aus „Widerstand und Ergebung
" für kirchliches Handeln heute. Die Auslassungen
scheinen Reflex einer ausprobierten Praxis zu sein.
Sicher gehören B.s Thesen über „Kirche für andere in
einer mündigen Welt" auch heute noch zu den mlei
essantesten und verheißungsvollsten Oberhaupt. Nur
bedarf die Anwendung jeweils sehr sorgfältiger und dezi-
dierter Reflexion. Jeder zu direkte Bezug trägt das
Risiko einer Verkürzung in sich. Hiervon scheinen einige
der Thesen Kuskes nicht ganz frei zu sein. Die Aufteilung
der Gemeinde in solche, die das Arcanum hüten
(„die in traditioneller Weise fromm sind", S.97) und
andere, „die mitten in der Welt stehen" und „anfangen,

die christlichen Versammlungen umzufunktionieren"
(vom Vf. positiv bewertet), dürfte kaum Bonhoeffers
Intention entsprechen. Und wieso das Gespräch über die
Bibel mit Hilfe der historisch-kritischen Methode ein
Schritt in Richtung nichtreligiöser Interpretation sein
soll, ist auch nur schwer einzusehen. Danach müßte
II. Bultmann Musterbeispiele weltlicher Interpretation
im Sinne Bonhoeffers abgeben, was man bei allein
Respekt vor seiner theologischen Leistung nicht behaupten
kann.

ad 2. Joachim Wie bering („Die Frage nach dem
Christentum in der modernen Welt") sieht B.s exzeptionelle
Stellung in der Theologiegeschichte unseres
Jahrhunderte darin, daß er angeblich überholte, in
Wirklichkeit aber nur verdrängte Fragestellungen der
liberalen Theologie aufgenommen und beantwortet
habe. In der Ernstnahme der modernen Welt bleibe Ii.
k. 'inen Schritt hinter Hamack oder Troeltsch zurück.
Nur daß er nicht wie jene den aussichtslosen Versuch
unternimmt, in Auseinandersetzung mit der Moderne
einen Raum für das Christentum auszusparen, was
immer auf eine Kapitulation hinauslaufen muß. Er
läßt sie ganz gelten, nimmt sie aber in einer Art Kopei-
nikanischer Wende ganz für Christus in Anspruch. Statt
Kapitulation Angriff und Eroberung! Die Fragestellung
kann nicht mehr lauten: „Christentum in der modernen
Welt", sondern „Christus und die moderne Welt", in
B.s Terminologie: Wer ist Christus für uns heute ? Diese
Frage sieht Wiebering bei B. in einem doppelten Schritt
entfaltet: in der Ethik durch die Suche nach neuen MaU-
stäben für unser Handeln und in der Kerygmatik durch
die neue Interpretation biblischer Hegriff.'. Hei der