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Ausgabe:

1975

Spalte:

917-919

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Laeuchli, Samuel

Titel/Untertitel:

Power and sexuality 1975

Rezensent:

Ernst, Wilhelm

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Theologische Litcruliirzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 12

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KIRCHENGESCHICHTE: ALTE KIRCHE

Lat'nrhli, Samuel: Power and Scxnaliiy. The Emcfgence of
('anoM Law ut the Synod of Kl vir«. Philadelphia. Pa.:
Tcmplo Univcrsity Press [1972]. IX, 143 S. 8°. Lw. $ 6,-.

Nach Beendigung der Dioklctianischcn Verfolgung fand um
300 (.'103, 306, 3097) in Klvira bei Grauada eine gesamtspa-
nisehe Synode statt, auf der 19 versammelte Bischöfe und
24 Priester 81 Canoncs verabschiedeten, die sieh vor allem
mit Kragen der Bußdisziplin, mit Kirchenausschluß. Taufe,
Sexual- und Khenioral. /ölihat und Bildervcrehrung hefassen.

Samuel Laeuchli, Professor für Patrislik an der Temple
l'niversity in Philadelphia, hält diese Canoncs für ein faszinierendes
Zeugnis der kirchliehen Kntwiekhing in der Zeit der
Umwandlung der christlichen Religion aus einer Sekte zu
einer Wcltrcligion. In der vorliegenden Studie unternimmt
Vf., der seine Untersuchung als ein „experimenl in methodn-
logy" versteht, den Versuch, mit Hilfe spraehanalylischer Me thoden
aus der Knnonsammlung von Klvira den gruppen-
dynarnischcii Prozeß zu erweisen, aus dem nach seiner Auffassung
hervorgeht, dal) die Synode von Elvira der Festigung
der Machtposition des Klerus diente, wobei die Unterdrückung
der Sexualität in Klerus und Volk eine große Holle
spielte.

Die Arbeit umfaßt folgende Abschnitte: 1. Language and
Event (3—16); 2. Tbc Ambiguity of Decision (17—55); 3. The
Struggle tot Identity (56—88); 4. The Sexual Dilemma (88
bis 113); 5. A Postscript: Elvira and Vatican II (114-125);
Appendix: Tbc Canons (126-135); Index (137-143).

Im ersten Abschnitt untersucht Vf. durch Vergleich der unterschiedlichen
Sprachmuslcr in den Canoncs die verschiedenen
Strömungen und Gegenströmungen auf der Synode und
durch Analyse der Aquivnkntionen in den Canones die Dynamik
rles frühen Christentum*. Hierbei kommt er zu dem Ergebnis
, daß die Entscheidungen von Klvira nicht das Resultat
vorher geplanter und formulierter Texte sind, sondern daß
sie sich in einem gruppendy na mischen Prozeß, der nach Art
pagnncr Kniialpmzedur verlief, allmählich herauskristallisiert
haben.

Der zweite Abschnitt unlersuclit den Sprachrhythmus unil
die Knlseheidungsmuster der Canones. Aus der Analyse der
Sprachseginenlc (person, causa, justilication, authority, decision
) läßt sich der gruppendynamischc Prozeß der Synode
ablesen, den VT. als freies Spiel von persönlichen und sozialen
Kräften deutet, deren Intention die Ktablierung der bischöflichen
und prieslerliehen Macht in einer Zeit der Krise
und des Wandels ist. Besondere Bedeutung mißt Vf. den sechs
Entscheidungsmustern hei (This sball be done; They must
not do litis; If they do this, we sball throw them out: If they
do this, they must do pennnce; If they do this, there ihafl
he no merey even at the end: l'nder the pressure of illm-,.
'here sball be merey on their deathbed). In der Vielheit dieser
Muster zeigt sich erstens eine Unsicherheit. Unbestimmtheit
und Mehrdeutigkeit der Kntschcidungcn; zweitens emotionale
Höhepunkte im Verlauf der Synode, was besonders
"n den ersten 18 und an den letzten 19 Canones abzulesen
■t, deren Kntscheidungen ungewöhnlich hart und streng sind;
drittens das Bemühen der Synode, durch Verbote, disziplinarische
Maßnahmen und Strafen die damalige Kirche zu kontrollier
,.,,

I«l dritten Abschnitt behandelt Vf. das Hingen der Synode
«rn Identität der frühen Kirche in der Auseinandersetzung
fit außer und innerkirchlichcn Kräften. Die Analyse der
Canon* Von Klvira läßt erkennen, daß die Kirche allmählich
z" «'iiier kultischen und kulturellen Macht wurde, deren Hc-
prasenlanlen die Beschöfe und Priester wurden. Sie stellten
n»ch außen und innen die neue Klite dar. die über das Veralten
ihrer Glieder wachte, über nlle Lcbensbcrciche Rcchts-
»atzungen erließ und allmählich großen sozialen und ökonomischen
Einfluß gewann. Mit der Synode von Elvira vollzog
»'dl ein entscheidender ideologischer und sozio politischer

Wandel, in dessen Verlauf an die Stelle von „Sol Invictus"
und ..Auguslus Imperator" der neue „Christus Victor" und
„Christus Imperator" trat.

Im vierten Abschnitt legt Vf. dar, daß bei den Bestrebungen
nach Identität*- und Imagefindung die sexuelle Krage
eine besondere Rolle spielte. Durch gesetzliche Verfügungen
über den gesamten Sexualbercich suchte die Synode den besonderen
Charakter christlichen Lebens zu definieren und
durch Aufstellung sexueller Tabus das Bild einer aszetisehen
klerikalen Kührcrschaft zu zeichnen. 45,7 Prozent der Canones
befassen sich mit sexuellen Kragen. Die Grundfuiiklion
dieser Gesetzgebung ist nach Vf. die Festigung des sozialen
Gcfüges der Kirche in der Epoche ihrer Identitätslindung,
ferner die Indoklrinalion der vertikalen Trennung zwischen
Klerikern und Laien, und schließlich die Schaffung einer klerikalen
Vorrangstellung durch Kontrollierung der Gemeinschaft
. In der 'Tatsache, daß besonders das Sexualverhalten
der Frauen streng bewertet wird, sieht Vf. ein aggressives,
manchmal sogar feindliches Verhalten, das als natürliche Reaktion
auf die sexuellen Restriktionen anzusehen ist, die sich
die Kleriker selbst auferlegten. In den Kntscheidungen zu
Sexualfragen spiegelt sich nach Vf. ein Sexualdualismus wider
, in dem eine Identitätskrise des damaligen Mannes offenbar
wird, der sich nicht in Beziehung, sondern in Abtrennung
zur Frau definiert, ferner eine Reaktion auf die negativen
Folgen der beginnenden Verstädterung, und schließlieh eine
Erwiderung auf die religiöse Krise der Antike. Den berühmten
can. 33 sieht Vf. im Unterschied zu vielen anderen Autoren
nicht als direktes Zölibatsgesetz an, sondern als Verbot
jeglicher sexueller Betätigung für den verheirateten Kleriker,
das freilich zum Zölibat führte.

Im fünften Abschnitt zieht Vf. einige Parallelen zwischen
Elvira und Vaticanum II. Beide fanden in einer Zeil des Umbruchs
und der Krise der Kirche statt: Elvira in der Zeil des
Uberganges zu einer Weltreligion und Kultreligion; Vaticanum
II in der Zeit der Säkularisierung und des Zusammenbruchs
der mittelalterlichen Kultreligion. Beide Konzile fanden
in einem Kirchenraum statt; in beiden besaßen die Kirchenführer
eine zentrale Stellung. Vaticanum II hat einige
Fehlentscheidungen von Klvira bereinigt, z.B. die Härcliker-
und .ludenfrage; andere tragische Fehler hat es verewigt,
z. B. in der Frage der Hierarchie, des Zölibates und der Sexualität
. Trotz der vielgerühmlen Kollegialität bleibt die vertikale
Struktur in einem kollegial-aristokratischen System erhalten
. Wahrend die heute erforderliche horizontale demokratische
Struktur abgelehnt wird. Im Dialog mit der Welt ging
das Vaticanum II nicht über Ansätze hinaus, z. B. in den
Fragen der Geburtenregelung, der Empfängnisverhütung, des
Zölibates, der Scheidung. Vf. sieht hierin die Furcht der Hierarchie
vor einer Erschütterung der Maeht^truktur, die unabsehbare
ökonomische, psychologische und soziale Konsequenzen
gehabt hätte, ganz abgesehen von einem Wandel in der
theologischen Lehre von der Sünde, der Erlösung, der Kindertaufe
und in ethischen Fragen. Vf. kommt abschließend zu
dem Urteil, daß die Dekrete des Vaticanum II nicht um ein
Jota weniger komplex und ambivalent sind als die Entscheidungen
von Elvira und daß Vaticanum 11 ähnlich wie Elvira
mehr ein Prozeß als ein Ergebnis, mehr ein aus Konflikten
und Interaktionen bestehendes Fragment als eine klare Stellungnahme
ist.

Die vorliegende Studie bietet einen interessanten Einblick
in die religiösen, geistigen und sozialen Verhältnisse der spanischen
Kirche um 300. Es ist Vf. gelungen, den gruppendynamischen
Prozeß der Synode in einigen Punkten zu erhellen
und die bekannte Strenge ihrer Entscheidungen wie
auch deren Ambiguitäl in den lllick zu heben. Andererseits
Beigen die spradianalytisehcn Untersuchungen aber auch, daß
dieses ..experiment in methodology" seine Grenzen hat. Die
Akzentuierung der Erörterungen auf die Begriffe Macht und
Sexualität muß notwendig zu einer einseitigen Deutung des
Geschehens und der Ergebnisse von Klvira führen. Das Urteil
des V&S, daß hinter den Entscheidungen von Elvira in
der Hauptsache das Bestreben des Klerus nach Macht und