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Ausgabe:

1975

Spalte:

862-863

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Bader, Dietmar

Titel/Untertitel:

Der Weg Loisys zur Erforschung der christlichen Wahrheit 1975

Rezensent:

Marlé, René

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 11

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Anspruch, Gottes Wort zu sein, den Leser oder Hörer
stellt". Es wäre u. E. ebenso wichtig gewesen, das Erbe
der Aufklärung in diese Überlegungen aufzunehmen, die
nicht dem Virtuosen, sondern dem Studenten zur Einarbeitung
ins Schriftproblem dienen sollen (74).

2. Unter dem Titel „Gesetz und Evangelium" verbirgt
sich eine Reflexion auf die Vermittlung von theologischer
Lebensdeutung und neuzeitlichem Bewußtsein (75ff.).
Vf. rekonstruiert auf phänomenologischem Wege, ausgehend
von der Möglichkeit des Selbstmordes und endigend
beim Opfercharakter des Menschseins, ein Vorverständnis
philosophischer Prägung, eine Anthropologie
des alltäglichen Lebens zwischen Leben und Sterben, Annahme
und Verweigerung, Erfüllung und Ablehnung. In
einem zweiten Schritt wird gefragt, wo nun das theologische
Kriterium für das gleichnishaft-alltägliche Vorverständnis
von Gesetz und Evangelium liegt: in Jesus Christus
(85ff.). „Christus ist also das Gesetz Gottes, das sich
heimlich oder offen immer erfüllt, weil er als Gesetz und
Gesetzgeber zugleich der Vollstrecker, der gehorsame
Sohn und darum der Richter des Menschen ist." Während
das Gesetz ins verborgene Herz des homo abscondi-
tus geschrieben ist, ist „die Gnade nur durch Gnade und
darum auch das Gesetz nur durch das Evangelium" erkennbar
. „Eine natürliche Gotteserkenntnis im und
durchs Gesetz gibt es nicht, weil es das Gesetz Gottes ohne
das Evangelium Gottes gar nicht gibt. Christus ist Gottes
Wort in der Einheit von Gesetz und Evangelium; er ist
die Offenbarung der Gnade und darum die alleinige Offenbarung
des Gesetzes; denn er ist das Evangelium als
erfülltes und darum schlechterdings nicht mehr anklagendes
Gesetz" (89). „Von daher wäre nun die eingangs
ausgeführte formale Anthropologie 1. zu wiederholen, 2.
zu rektifizieren und 3. zu füllen: 1. zu wiederholen, sofern
Gesetz und Evangelium sich gegenseitig bestätigen
und aufheben, 2. zu rektifizieren, sofern nun umgekehrt
der Mensch unter dem Evangelium vom Sterbensollen
herkommt und auf das Lebensollen zugeht, beides aber
zusammengeschlossen ist als die Erfüllung des vom Gesetz
verlangten Ganzopfers von Leben und Sterben, und
3. zu füllen, insofern als der Mensch nun im Leben und
Sterben Zeuge des Wortes Gottes, des auferstandenen Gekreuzigten
, und damit in jedem Augenblick Zeuge von
Gesetz und Evangelium Gottes ist" (99). — Daß die auch
hier plakativ und formelhaft bleibende Unterscheidung
und Zuordnung von Gesetz und Evangelium von Lebenserfahrung
herkommt und auf Lebensgestaltung abzielt,
macht vor allem der folgende Aufsatz deutlich.

3. Der ausführliche Beitrag „Das Evangelium als politische
Weisheit" von 1948 ist heute hoch aktuell (102-147).
Einsatzpunkt: Das Evangelium ist frohe Botschaft, zusammengefaßt
in der Bibel als dem Buch der Weltgeschichte
, in den Ereignissen von Schöpfung, Geburt und
Auferstehung Jesu und der Wiederkunft Christi; vom
Menschen, seinen Leistungen und Ansprüchen her gesehen
in den Ereignissen von Sündenfall, Strafgericht
Gottes und Golgatha. Daß Gott die Welt barmherzig regiert
, ist seit dem Sündenfall für uns verborgen. Aber
Gott offenbart sich auf dreifache Weise: „als Bestrafung,
i»ls Geduld und als Durchsetzung der Freiheit des Wortes
Gottes" (107). Diese Offenbarung ..macht die Welt zum
heimlichen Werkzeug und die Gemeinde zum offenen
Werkzeug" der Herrschaft Gottes (115). Die alleinige,
barmherzige und gerechte Weltherrschaft Gottes impliziert
„auch eine politische Nachricht und macht die Gemeinde
zum Betätigungsfeld politischer Weisheit"
(110 f.). Das Evangelium von der Weltherrschaft Gottes
'"t „die einzig wichtige politische Nachricht, an der erst
gemessen werden kann, was eigentlich Politik ist". Erst
wenn die Gesprächs- und Gesinnungsgemeinschaft der
auf Christus Hörenden sich in Mündigkeit um die Gerechtigkeit
Christi für sich selbst kümmert, kann dann

das Evangelium auch als politische Weisheit der Christen
im Betätigungsfeld der staatlichen Ordnung und Wohlfahrt
wirksam werden (133ff.).

Diese an Barths Modell der drei konzentrischen Kreise
von Offenbarung — Christengemeinde — Bürgergemeinde
erinnernde Bestimmung der politischen Weisheit in Gemeinde
und Welt bleibt bei aller kirchen-, Staats- und
gesellschaftskritischen Intention geschichtslos, zeitlos,
normativ ohne rechte Vermittlung mit unseren alltäglichen
Erfahrungen. Die Kirche, heißt es in den Gesammelten
Aufsätzen von 1960, „hat das Schwert des Geistes
und damit eine größere Verantwortung als der Staat. Um
ihre eigene Sicherheit und ihr Ansehen hat sie sich nicht
zu sorgen. Sie lebt in der Hoffnung auf die Offenbarung
der Herrschaft Gottes und sehnt sich nach ihr und damit
nach dem Ende aller staatlichen Macht und Zwangsordnung
" (257). Ist damit nicht die Emigration der Kirche
aus der Gesellschaft besiegelt, die sich im Ansatz nur
dann verhindern läßt, wenn man die Kirche (Gemeinde)
als Bereich, Funktion und Institution unserer Gesellschaft
begreift. Hier wäre Schempps „barthianisierte"
Zwei-Reiche-Lehre kritisch zu konfrontieren mit dem
Anliegen politischer Theologie, sofern sich diese als Erbe
des Liberalismus nicht bereits schon wieder mit christlich
-demokratischer Festschreibung des Status quo identifiziert
.

4. Der letzte Beitrag über die Angst vor der Wissenschaft
, anläßlich der Sitzung der Kirchlich-theologischen
Sozietät in Württemberg 1952 gehalten, votiert für das
bleibende Recht freier wissenschaftlicher Forschung, für
die historisch-kritische Methode im Sinne der Bultmann-
Schule. Gerade an dieser Stellungnahme aber zeigt sich,
daß Schempps Schrift- und Luther-orientierter Ansatz
weitergeführt werden muß im Sinne politischer Hermeneutik
. Dies ist übrigens ganz im Sinne Schempps, wenn
man sein Eintreten für die mündige Gemeinde auch gegen
die Kirchenleitung und sein Verhalten im Kirchenkampf
auf den Begriff zu bringen versucht. Schempps
Leben und Wirken war politischer, aufregender, aggressiver
und praktischer, als es diese theologischen Entwürfe
ansatzweise erkennen lassen.

Stadt Rehburg Uwe Gerber

Bader, Dietmar: Der Weg Loisys zur Erforschung der
christlichen Wahrheit. Freiburg—Basel—Wien: Herder
[1974]. 200 S. 8° = Freiburger theologische Studien,
hrsg. v. J. Vincke, A. Deissler, H. Riedlinger, 96. Kart.
DM 32,-.

Presentee comme «Dissertation» ä la Faculte de Theologie
de l'Universite de Freiburg i. Br., cette etude re-
pond tout ä fait ä ce genre litteraire. Elle entre-
prend une relecture des premiers ecrits de Loisy
dans une perspective determinee: celle que deflnit
l'idee de verite. La premiere partie est consacree
ä l'analyse des deux articles fondamentaux dans
lesquels Loisy esquisse dejä ses positions de base et
sa methode: -La critique biblique* (1892) et «La que-
stion biblique et l'inspiration des Ecritures» (1893). La
deuxieme partie a pour objet l'examen de l'application
faite par Loisy de ces prineipes dans «L'Evangile et
l'Eglise» (1902), et des justifications qu'il en donne dans
-Autour d un petit livre» (1903). Cette relecture des pre-
mieres oeuvres de l'exegete frangais est aecompagnee,
comme il se doit, de references ä plusieurs ctudes dejä
consacrees au sujet, notamment ä celle d'E. Poulat:
-Ilistoire, dogme et critique dans la crise moderniste»
(Tournai, 1962).

L'idee fondamentale de Loisy, qui court ä travers tous
ces premiers ecrits et dont «L'Evangile et l'Eglise»- sera
l'application, est celle d'une distinetion radicale ä operer
entre les «verites-ä-connaitre», Celles qui portent sur des