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Ausgabe: | 1975 |
Spalte: | 838 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Käsemann, Ernst |
Titel/Untertitel: | An die Römer[Rezension] 1975 |
Rezensent: | Kümmel, Werner Georg |
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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 11
838
B. aufgrund seiner „im Prinzip strukturalen Betrachtungsweise
" (S. 32) nicht interessiert. Die in allen Zeugnissen
gleichbleibende Struktur bzw. der ,.unter den vielen
Texten verborgene ,Grundtext'" (S. 246), den B. freizulegen
und zum Reden zu bringen unternimmt, bzw.
das, was „in und durch Jesus ... als Mitteilung vernommen
sein will" (S. 17), ist „die Liebe Jesu, die selbst das
kläglichste Versagen überdauert und sich darum auch im
Fortriß des Todes behauptet. Die durch sie gestiftete Beziehung
ist die Struktur, die sich ... durchhält und ...
echte Kontinuität ermöglicht" (S. 224). Diese mit Jesus
identische Liebe ist „die Resultante einer sich durchhaltenden
Struktur" (S.219), sie „verklammert" diegesamte
..Lebens- und Leistungsgeschichte Jesu" (S. 236), sie bestätigt
„die .soziale', zu den Seinen hin geöffnete ... .aufgebrochene
' Gestalt dieses (seines) Selbstbewußtseins
und der dadurch statuierten Individualität" (S. 247). Das
..entscheidende Ereignis im Selbstbewußtsein Jesu" ist
demzufolge „seine Identifikation mit denjenigen, denen
sich seine Liebe vornehmlich zuwendet: mit den geringen
', den Schwachen ..." (S. 97). Dies geschieht auf dem
Weg seiner — im Glauben erfolgten — Ineinssetzung mit
dem Menschensohn als seinem himmlischen Repräsentanten
. Damit „eröffnet er allen die Möglichkeit, sich
ihm, dem Identifizierten, anzuschließen, und das besagt,
sich glaubend auf ihn zu begründen" (S. 105). Entsprechend
deutet B. das Verhältnis Jesu zum Gottesreich:
..Wie sich Jesus dort in der Himmelsgestalt zunächst gespiegelt
sieht, um sich schließlich mit ihr zu identifizieren
, so auch hier" (S. 114). Das schwierige Zeitproblem
wird dadurch überspielt, daß B. sagt: „Jesus (denkt) das
Gegenwärtigwerden des Reichs im Stil seiner eigenen
Anwesenheit" (S. 115). Das besagt inhaltlich, daß „das
Gesetz seiner selbstlos dienenden Liebe" das „Grundgesetz
seines Reichs" darstellt (ebd.). Demnach wird Jesus
„im Medium der Praxis" sichtbar; denn „in der Konzeption
vom Gottesreich legt sich sein Selbstbewußtsein
in einer menschlichen Lebensform aus" (S. 116). Daraus
erklärt es sich, daß das Gottesreich als „die soziale Explikation
des Selbstbewußtseins Jesu" bzw. als „praktischsoziale
Selbstaussage" definiert werden kann (S. 117).
Der temporale Aspekt der Basileia tritt darum hier hinter
dem lokalen zurück — in Anlehnung ?n die von B. bevorzugten
johanneischen Texte. Auf diese „soziale Lebensform
" (S. 118) legt nun B. allen Nachdruck und erblickt
in ihr „die radikale Destruktion der repressiven
Machtverhältnisse" (S. 153). des Leistungsdenkens und
der Entfremdung. Dieses Gottesreich ist „das Asyl gegenüber
der Hektik einer kraft- und substanzauslaugenden
Arbeitswelt, die Zitadelle gegenüber dem Zugriff der
sozialen Zwänge, die Freistatt gegenüber manipulatorischen
Einflüssen und in alledem der Raum des zu sich
selbst kommenden, sich selber angehörenden Menschen"
(S. 154/5). „Glaube" wird in diesem Zusammenhang als
..Akt der Selbstbegründung auf die Liebe Jesu" (S. 181)
und das heißt als ein Hineingerissenwerden „in seinen
Selbstwerdungsprozeß" (S. 182) verstanden. Der Glaube
hat es somit „elementar, und das heißt von seinen innersten
Fundamenten her. mit der Selbstverwirklichung Jesu
zu tun" (ebd.). Das bedeutet, daß „.die Sache Jesu' in
unsere Hand gelegt" ist. „Sie wächst und fällt mit unserer
Reaktion" (S. 238); denn das, was Jesus leistet und ist,
..erlangt erst im antwortenden Nachvollzug seine volle
Realität" (S. 239). Dem modernen Anliegen der Berücksichtigung
der „lebendigen Kreativität" des Menschen
(S. 247) wird dadurch von B. (wohl aber kaum von Jesus)
Rechnung getragen — unter Berufung auf die „emanzipa-
torische Logik des Evangeliums" (! S. 248). Entsprechend
dieser „strukturalen Betrachtungsweise" ist Jesu Auferstehung
als „Appell Gottes an uns" zu interpretieren.
..aus Skepsis, Indifferenz. Gleichgültigkeit und Haß" aufzuerstehen
und „einzugehen in die aus dem Urakt seines
Selbstbewußtseins entworfene, aus dem Stoff seiner Liebe
erbaute und in der Gestalt des Gottesreichs sichtbar gemachte
Wohnung. Und es heißt vor allem: verharren,
bleiben in seiner Liebe" (S. 249).
B. trägt diese seine Ausführungen in flüssiger und gut
lesbarer Form vor und bringt — wie auch in seinen anderen
Veröffentlichungen — häufig Zitate von berühmten
Dichtern und Denkern (Dostojewski, Hegel, Hölderlin,
Kierkegaard, Nietzsche, Pascal, S. Weil) und erweist sich
damit als auf der Höhe einer humanistischen Bildung
stehend, in deren Koordinatensystem er die Vergegenwärtigung
Jesu vornimmt. Die wirklich bedrängenden
weltpolitischen und ökonomischen Probleme (Hunger,
Übervölkerung, Imperialismus und Kolonialismus) sowie
die Erfahrungen unserer Geschichte (Auschwitz,
Schuld und Versagen der Kirche) bleiben völlig unberücksichtigt
. Daß Jesus auch Gerichtsworte gesprochen
hat, kann man dieser Jesusvergegenwärtigung nicht entnehmen
. Es rächt sich eben doch, wenn man die historisch
-kritische Methode so an den Rand verweist, wie es
B. tut. Dient es wirklich der .Sache Jesu', wenn eine an
die finsterste Epoche unseres Jahrhunderts erinnernde
Schwarzmalerei des Judentums um die Zeitenwende betrieben
wird (vgl. schon die Uberschrift dieses Unterabschnitts
: „Dürftige Zeit", S. 34!) und wenn eine radikale
Abwertung der „Revolutionäre aller Zeiten", die „durch
die Entfesselung der Gewalt" die Verhältnisse ändern
wollen (S. 153). vorgenommen wird? An diesen Punkten
sollte doch wohl gerade heute der — sonst von B. immer
gepriesenen — Wahrheit die Ehre gegeben und dadurch
der .Sache Jesu' gedient werden! Das Evangelium bedarf
nicht, um leuchten zu können, der Erstellung eines dunklen
Hintergrunds. Es wird auch nicht dadurch dem heutigen
Menschen nahegebracht, daß von Jesus in Superlativen
geredet wird. Bei aller dankbaren Anerkennung
für das in diesem Buch geistvoll durchgeführte Bemühen,
die Gestalt Jesu der Gegenwart nahezubringen, bleibt
doch die bedrängende Frage, ob der hier vergegenwärtigte
Jesus mit seiner inneren Biographie wirklich noch
der Jesus ist, der gerade den Frommen das Gericht ankündigte
.
Berlin Günther Baumbach
Käsemann, Ernst: An die Römer. 3., überarbeitete Auflage
. Tübingen: Mohr 1974. XV, 411 S. gr. 8° = Handbuch
zum Neuen Testament, in Verb, mit Fachgenossen
hrsg. v. G. Bornkamm, 8a. Hlw. DM 39,—.
Es spricht für die Bedeutsamkeit und Qualität des Römerbriefkommentars
von Ernst Käsemann, daß dieses in
ThLZ 99. 1974 Sp. 481 ff. ausführlich angezeigte Buch bereits
nach einem Jahr in dritter Auflage erscheinen konnte
. Käsemann hat für diese dritte Auflage aufgrund der
Hinweise von M. Hengel, P. Stuhlmacher und mir eine
„erhebliche Anzahl von Fehlern beseitigt" und außerdem
einige übersehene oder inzwischen erschienene Arbeiten
zu einzelnen Textstellen oder zu größeren Komplexen
nachgetragen und eingearbeitet. Das Buch ist auf
diese Weise um vier Seiten gewachsen, im ganzen aber
unverändert geblieben. An der vertretenen Auslegung
hat Käsemann, soweit ich sehe, nichts geändert, nur gelegentlich
etwas vorsichtiger formuliert (etwa auf der
letzten Seite betreffs der Herkunft der Doxologie). Der
Kommentar hat durch diese Überarbeitung nicht an
Wert, aber an Zuverlässigkeit und Vollständigkeit gewonnen
.
An Fehlern sind stehengeblieben: S. 40: me-ällaxen
statt metällaxen; S. 57: Hebr. Univ. Coli. Annual statt
Hebr. Un. Coli. Annual.
Marburg Werner Georg Kümmel