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Ausgabe:

1975

Spalte:

797-800

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ossa, Leonor

Titel/Untertitel:

Die Revolution, das ist ein Buch und ein freier Mensch 1975

Rezensent:

Krügel, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 10

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MISSIONSWISSENSCHAFT, ÖKUMENE

Ossa, Leonor: Die Revolution - das ist ein Buch und ein freier
Mensch. Zur Inkulturation des Christentums in Lateinamerika
. Hamburg: Furche-Verlag [1973]. 173 S. 8° = Konkretionen
- Beiträge zur Lehre von der handelnden Kirche,
hrsg. v. H.-E.Bahr, 16. Kart. DM 19,80.

Die deutsch-argentinische Autorin gibt eine Einführung
in die Geschichte der Christen in Lateinamerika,
entwirft auf diesem Hintergrund ein Bild der modernen
christlichen Gruppen, die die bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse von Grund auf ändern möchten, erklärt
die traditionelle Theologie als in nahezu allen
ihren Hauptkomplexen dieser Zielsetzung hinderlich
und läßt dem ersten Teil, in dem sie das eben Genannte
in sieben Kapiteln entwickelt, einen zweiten, nur ein
Kapitel umfassenden Teil folgen, in dem den geschilderten
lateinamerikanischen Vorgängen und Erwägungen
„gleichnishafte Relevanz" (152) für die Kirche
schlechthin und in aller Welt zugesprochen wird. Mut
und Ernst des Suchens, die aus jeder Seite dieses Buches
sprechen, dürfen der Sympathie aller derer sicher sein,
die erkannt haben, daß es auch den Kirchen nicht länger
möglich ist, den großen gesellschaftlichen Problemen
auszuweichen. Dennoch wird man der Autorin in entscheidenden
Punkten nicht zustimmen können.

Zunächst wird das erschütternde Erbe der Kolonialära
vor Augen geführt: Die ursprüngliche Indianerbevölkerung
wurde „bis auf ungefähr ein Zehntel reduziert
" (20). Die Gründung der Kirche vollzog sich „ohne
partizipativen Geist gegenüber der indianischen Bevölkerung
" (ebd.). Das Urteil wird aber auch jenem
protestantischen „Mythos" des 19. und 20. Jahrhunderts
gesprochen, demzufolge, wie der katholische Theologe
fl. Borrat formuliert, der „American way of life" die geeignete
Methode sei, „zu einem wirksamen, gesunden
,Latin America way of life' zu gelangen" (41). Ebenso
verwirft O. schließlich den sektiererischen Protestantismus
, der zwar „eine wesentlich stärkere Inkulturation
des Christentums schuf" (21), sich aber organisiert
„um eine paternalistische Figur, nämlich den
Pastor, der die Funktionen des vormaligen Gutsbesitzers
zu übernehmen hat... Der sektiererische Protestantismus
wird so, statt zur Transformation und Reformation
der Massen freizusetzen und anzuregen..., zum
Bremsklotz für den anstehenden Wandel" (43).

O. setzt ihre Hoffnung für Lateinamerika ganz auf
einen Avantgardismus, der sich freilich dessen bewußt
ist, nicht „massenrelevant" zu sein (46), sich aber auch
nicht entschließen kann, den Weg in die Parteien zu
suchen, weil er auch den kommunistischen Parteien
vorwirft, daß sie „ihrer Orthodoxie wegen stagnierten"
(54). Es seien allein „die .parteilosen' revolutionär-subversiven
Kampfgruppen" vom Schlage der „Tupa-
maros", die „mobil bleiben" (ebd.).

Solchen Fehleinschätzungen entgegenzutreten wäre
keine Aufgabe für Theologen, wenn es sich hier nicht um
die Ideologie gerade solcher Gruppen handelte, die als
christliche Avantgarden verstanden werden wollen,
vor allem die BPDW (Bewegung „Priester für die
Dritte Welt"), der etwa 400 argentinische katholische
Priester einschließlich einiger Bischöfe angehören, sowie
die internationale ökumenische Organisation MISUR
(Mision Urbana). Letztere „steht in lockerer Verbindung
zu ISAL (Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika
), Uruguay, das seinerseits wiederum seine Existenz
dem Weltrat der Kirchen in Genf verdankt" (89).

Für MISUR hegt O. besondere Sympathien wegen
„der marxistisch ausgerichteten Ideologie der MISUR-
Mitarbeiter, die jedoch nicht orthodox marxistisch ist"

(ebd.). Wohin eine „proletarische Theologie" (92) im
neomarxistischen Gewände tendiert, wird an der Auseinandersetzung
deutlich, die O. mit der BPDW führt.
Diese Bewegung „rechnet sich durchweg zur radikalen
Linken" (65). Ihre Äußerungen weisen „eine bestimmte
Stilgattung" auf, „ein prophetisches Schema der Anklage
" (77). Trotzdem findet die BPDW nicht die Zustimmung
der Autorin, weil die Bewegung „weiterhin
ihre Treue zur hierarchisch verstandenen Institution
Kirche ... bekundet" (81). Für O. vertreten bis jetzt
nur einzelne Mitglieder der BPDW zukunftsträchtige
Auffassungen, etwa A.Lanson. Er „versteht sich weiterhin
als Priester", aber er „leistet keine ,religiösen
Dienste', zelebriert keine Messe und veröffentlicht
Bücher und Schriften, ohne vorher die kirchliche
Druckerlaubnis ... einzuholen. Hauptsächlich bemüht er
sich um die Analyse des ökonomischen - und von daher:
politischen - Geschehens unter Verwendung marxistischer
Kategorien und Kriterien biblischer Vorgänge.
Denn für ihn sind politisches und christliches Handeln
nicht zwei Paar Stiefel." Für Lanson wird „der Mythos
einer Heilsgeschichte überflüssig" (88), er wendet sich
also gegen Medellin, jene bedeutsame Konferenz, auf der
die lateinamerikanischen Bischöfe „die Profangeschichte
" „entdeckten"; „aber sie entdecken sie als
Offenbarungsraum Gottes" (96).

Was O. daran auszusetzen hat, verdeutlichen folgende
Sätze: „Die Forderungen von Gerechtigkeit und Frieden
in den bischöflichen Dokumenten und in verwandten
Texten - wie die der BPDW - erscheinen als starre
Forderungen, die deduktiv von einem vorher festgestellten
.Willen Gottes' hergeleitet werden. Die Schriften
Alten und Neuen Testaments kommen nicht als Dokumente
gelebten Lebens in Betracht, sondern nur als
Belege für die aufbewahrte und unwandelbare Lehre"
(98). Jesu „und seiner Anhänger Weltzuwendung überwand
im Ansatz die ... Dualisierung der Geschichte und
damit das heilsgeschichtliche Denken selbst" (102).
„Ideologisch gesehen, übt das heilsgeschichtliche Denken
MedelHns und daher auch der BPDW eine konservative
und nicht eine revolutionäre Funktion aus" (103).

Die Kritik setzt sich in der Erwägung fort, „ob der
.Christus des Glaubens' nicht schon lange die Gestalt
Jesu von Nazareth überstrahlte und ausblendete" (127),
um schließlich zu fragen, „ob die biblische Überlieferung
überhaupt für ein jenseitiges Verständnis Gottes Anlaß
gibt" (136). Für O. ist heute „die Problemstellung des
Chalcedonense bereits im Ansatz überholt" (ebd.). „Die
Dualität vere deus - vere homo taucht ... nicht mehr
auf, und die Qualitäten des Christus werden nicht mehr
in ur- oder endzeitlichen Mythologumena verrechnet"
(142f.). Es werden „in die Gestalt Jesu keine halb oder
ganz göttlichen Züge projiziert..., sondern rein menschliche
: Revolutionär, Armer" (142).

Daß wenigstens diese - nach einem treffenden Wort
Borrats - „Mini-Christologie" (143) noch beibehalten

wird, scheint taktische Gründe zu haben: .....man ist

sich ... einig, daß die Spiegelung des politisch-sozialen
Prozesses des Volkes in der Gestalt Jesu von hohem
Wert sein kann" (142). Solange - so wird man die Autorin
und ihre Gesinnungsfreunde verstehen müssen - es
noch Menschen gibt, die in einer persönlichen, religiösen
Beziehung zu Christus stehen, ist es zweckmäßig,
diesen als Gleichuisfigur zu benutzen.

Gleichnishaftigkeit ist für 0. überhaupt der Weisheit
letzter Schluß, ist das einzige, was am Neuen Testament
bleibt. „Dir Gleichnisse Jesu und der LTrgemeinde gehören
zu jenen Sprachmitteln, ... die als Kommunikationsweise
auch weiterhin den Christen in ihrer weiteren
Geschichte offenstehen" (156). „Gleichnisse bringen
zum Ausdruck, daß die christliche Erfahrung der Ge-