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Ausgabe:

1975

Spalte:

784-785

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wunderli, Jürg

Titel/Untertitel:

Euthanasie oder über die Würde des Sterbens 1975

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Theologische Literalurzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 10

784

Problemstellungen vermittelt. Der Vf. bedarf nicht der
immer wieder vorgebrachten Entschuldigung, daß seine
Darlegungen „nur" den Charakter des Fragmentarischen
und Thetischcn (vgl. ü) bzw. des Diskussion*-
beitragen (93) tragen, denn theologische Arbeit kann nur
dann fruchtbar sein, wenn sie statt des allerorts wahrnehmbaren
Problemlösungszwangs zuerst Problemstellungen
anvisiert und analysiert, weil sie sonst sehr
schnell nur traditionelle Problemlösungen repristiniert.
Schupp geht es ja gerade um den „Übergang von ,dogmatischer
' Denkform der Theologie zu einer kritisch aufgeklärten
, problemorientierten und so selbst problematischen
' Theologie" (6), um eine Theorie der Theologie
, die der „Minimalforderung" nach Kritisierbarkeit
ihrer Sätze Genüge leistet (130, vgl. 140) und also frei
wird von der Sorge, auf Anhieb undiskutierbare
Problemlösungen bieten zu müssen.

Rein äußerlich läßt sich die Arbeit einreihen in die
neueren Versuche, die Ergebnisse der modernen Wis-
senschaftstheorie und Sprachphilosophie für das theologische
Problembewußtsein und Problemlösungsverhalten
fruchtbar zu machen, wobei sich die Ausfuhrungen
Schupps auch zu eiuem guten Teil der Theologie
Karl Bahners verpflichtet wissen. Das Besondere der
Arbeit des Vf.s besteht allerdings darin, daß seine Erwägungen
nicht auf der methodologischen Ebene stehenbleiben
, wie das bei den ähnlich gelagerten Publikationen
der letzten Zeit oft der Kall ist. Vielmehr werden
die Anregungen der modernen Wissensehaftstheorie an
theologischen Sachproblemen erprobt und durchgespielt.
Dadurch wird es dem Leser möglich, Bedeutung und
Tragweite solcher Anstöße zu erfassen und kritisch mit-
zureflektieren, Theologie „als kritische Selbstaufklärung
des Glaubens" (85) anhand konkreter und gewichtiger
theologischer Sachprobleme kennenzulernen.

Diese Feststellung trifft schon für jene Beiträge zu, die
bei aller Konzentration auf theologische Fragestellungen
grundsätzlichen methodologischen Fragen gewidmet
sind, - Beiträge, in denen sich der Vf. mit der Forderung
kritischen Denkens in der Theologie überhaupt (9-26)
und den daraus ableitbaren Konsequenzen für die
Struktur der Theologie und des theologischen Studiums
(27-42) befaßt. Der abschließende Aufsatz „Bemerkungen
zum Theoriebegriff in der Theologie" (124-158)
testet die Anwendung und Handhabung des Theoriebegriffs
am Modell der Gottesfrage.

Thematische Gestalt gewinnt diese enge Kopplung von
wissensehaftstheoretischen Erwägungen und theologischen
Sachfragen im Mittelteil des Buches. Der Vf.
reflektiert hier erstens die „Probleme des theologischen
Geschichtsbegriffes" (43-69) und setzt sich für ein
biblisch-eschatologisches Verständnis von Geschichte
jenseits von existential verstandener Geschichtlichkeit
und begriffener Heilsgeschichte ein (vgl. bes. 50ff.).
Eschatologie wird zur „methodische(n) Grundforderung
des dogmatischen Verfahrens" (54) und damit zur legitimierenden
Größe kritischen - weil um Vorläufigkeit,
Überholbarkeit und Relativität theologischer Aussagen
wissenden - Denkens. In einem zweiten Themenkreis
stellt der Vf. die „umstrittene Instanz" (70) des kirchlichen
Lehramtes zur Diskussion (70-87), das nach seiner
Auffassung eine „sprachregelnde Funktion" zu erfüllen
(75) und eine „betont historisch, dialektisch und kritisch
" verfahrende Sprachpraxis zu entwickeln hätte
(81). Das Lehramt sollte zum institutionellen Forum der
„Dauerreflexion" (80) werden und hätte gegenüber der
Theologie nicht eine doktrinelle Aufgabe, sondern die
Freiheit theologischer Diskussion institutionell zu
sichern (87). Muß an dieser Stelle noch ausdrücklich auf
die ökumenische Relevanz dieses Ansatzes hingewiesen
werden? In einem dritten Themenkreis befaßt sich

Schupp mit dem Begriff „Offenbarung" (88-123). Nachdem
er es zu Recht als nicht zulässig herausgestellt
hat, den vieldeutigen Offenbarungsbegriff unbefragt
zur undiskutierbaren Voraussetzung theologischer Argumentationen
zu machen (88ff., vgl. 114), unternimmt er
den Versuch einer diffizilen sprachanalytischen Untersuchung
dieses Begriffs, die darauf hinausläuft, „Offenbarung
" als eine „metatheoretische Bezeichnung für eine
kritische Theorie der Sprache" (120) zu bestimmen.

Es ist im Rahmen einer Rezension nur möglich, einige
Impressionen dieser höchst gehaltvollen, tiefen und
komprimiert gehaltenen Abhandlungen wiederzugeben.
Das Bemühen, wissenschaftstheoretische Erkenntnisse
an theologischen Problemstellungen zu erproben bzw.
mit derartigen Erkenntnissen zu neuen Problemstellungen
vorzudringen, verdient eine nachdrückliche Würdigung
. Ob dieses Bemühen freilich in jedem Fall als
gelungen und richtungweisend beurteilt werden kann,
hat der Leser dieser „Quaestio disputata" zu prüfen,
der man nicht dringend genug wünschen kann, auch zur
„quaestio disputanda" zu werden.

Halle, Nii;ilr Miiliiiol Jicililkcr

ETHIK

Wunderli, Jürg: Euthanasie oder über die Würde des Sterbens.

Ein Beitrag zur Diskussion. Stuttgart: Klett [1974]. 180 S.
8°. Kart. DM 18,—.

Weil sich in diesem Buch eines Schweizer Arztes viele
Wiederholungen finden und es an verschiedenen Stellen
auch über seine Spezialthematik hinweg ausufert, empfiehlt
sich für seine Würdigung die Darstellung in Gestalt
einer Problemzusammenfassung: 1. Vf. will den
Begriff der Euthanasie, der vor drei Jahrzehnten auf die
j,Vernichtung lebensunwerten Lebens" angewendet
wurde, wieder im traditionell positiven Sinn als menschliche
Sterbehilfe im weiten Sinn zur Geltung bringen.
2. Eine aus anderer Fachliteratur erarbeitete Übersicht
über die Tendenzen zur „Vernichtung lebensunwerten
Lebens" in Geschichte und Gegenwart wirkt informativ.
Vf. meint, „daß dem Auftreten des Christentums der
absolute Schutz des von Gott geschaffenen und gott-
ebenbildlichen menschlichen Lebens zu verdanken ist"
(S.76). 3. Die Schwierigkeiten für die Behandlung des
Themas ergeben sich aus der negativen Hypothek der
faschistischen Zeit und aus der „gewaltigen Entwicklung
der medizinischen Möglichkeiten" (S. 164) in der
letzten halben Generation. Die Verantwortung des
Arztes ist enorm gestiegen. 4. Wesentlich ist für den
Wert des Buches die Aufbereitung des Feldes der Euthanasie
mit seinen ganz unterschiedlichen Bereichen
(S.23f.): Vernichtung „lebensunwerten Lebens" wird
streng negativ beurteilt. - Euthanasie als Sterbehilfe in
einem allgemeinen Sinn wird selbstverständlich bejaht
und im Ansatz beschrieben, ohne daß die Darstellung
hier sehr konkret würde. Persönliche Probleme des
Arztes werden angedeutet, z.B. seine Einstellung zum
Tod (S.164ff.) und seine oft stark empfundene Hilflosigkeit
(S. 171). - Nach einigen verschlungenen Dis-
kussionspfaden, die zeigen, wie es sich Vf. nicht leicht
macht, kann er die passive Euthanasie als eventuelle
ethische Möglichkeit bejahen: das Sterbenlassen

unter Verzicht auf technisch mögliche Lebens- und
Leidensverlängerung" (S.24). Es gibt eine Verlängerung
der Leiden um jeden Preis, bei der ein menschenwürdiges
Sterben vereitelt wird. Ohne dem Menschen
grundsätzlich Leiden ersparen zu dürfen, hat der Mediziner
doch zu entscheiden, ob er dauernd bewußtlose