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Ausgabe:

1975

Spalte:

773-775

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Maurer, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Kirche und Geschichte 1975

Rezensent:

Beintker, Horst

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 10 774

773

an diesem geistigen Zentrum wirkenden Kräfte und
ihrer Gedankenwelt. Wer - in welcher Weise immer - an
deren Erforschung mitarbeitet, wird die neue Verifizierungsmöglichkeit
philosophischer Lehrentwicklung,
die dieser De-anima-Kommentar bietet, dankbar begrüßen
. Dazu liefert der Hrsg. überdies durch die in seiner
philosophisch-historischen Einleitung dargebotene
Untersuchung der Stellung, die Radulphus im Streit um
den averroistischen Monopsychismus einnimmt, einen
aufschlußreichen Beitrag. Er kommt zu dem Ergebnis,
daß R. - obwohl Weltpriester und nicht Dominikaner -
einen sowohl gegen den Neo-Augustinismus als gegen
den lateinischen Averroismus gerichteten gemäßigten
Aristotelismus im Gefolge des Aquinaten vertritt. Das
Ergebnis ist u.a. unterbaut durch wertvolle Untersuchungen
über die von Radulphus benutzten Übersetzungen
der aristotelischen Schriften und anderer
griechischer und arabischer Autoren sowie über die
Quellen, aus denen er die Kenntnis von Lehren einer
Reihe ihm nicht direkt zugänglicher antiker und mittelalterlicher
Autoren geschöpft hat.

Der sachlich und zeitlich richtigen Einordnung von
R.s Werk dienen fernerhin aufschlußreiche Informationen
über die im Universitätsbetrieb des 13. Jh.s entwickelten
literarischen Formen der Aristoteles-Komment
ierung (per modum commenti bzw. p.m. quaestio-
nis) und über die Praxis ihrer „buchtechnischen" Verbreitung
.

Selbstverständlich unterrichtet die Einleitung auch
über Leben und Werk des Radulphus - unter eingehender
Erörterung der Forschungslage -, bietet eine sehr
detaillierte Beschreibung und Charakterisierung der
Hss. und erarbeitet durch deren Vergleichung das Hss.-
Stemma. F. unterscheidet zwei Textredaktionen, deren
zweite wiederum noch mit einem Reportatum, also einer
nicht auf die Hand des Radulphus selbst zurückgehenden
Vorlage, kontaminiert worden sei. Als Grundlage für
die Text-Edition wird nicht die älteste, sondern eine
jüngere, sich als besser erweisende Hs. gewählt.

Die Edition selbst bietet den Text in einer durch die
Quaestionen-Einteilung und eine innerhalb dieser
durchgeführten fortlaufenden Zeilenzählung übersichtlichen
, gut zitierbaren Form. Der Druck ist hervorragend.
Der kritische Apparat enthält nur eine, die Durchsichtigkeit
der Überlieferung und des Hss.-Verhältnisses
gewährleistende Varianten-Aus wähl. Der Quellen-
Apparat beschränkt sich nicht auf den Nachweis direkter
und indirekter Zitierungen, sondern bemüht sich in oft
längeren Ausführungen um die Entwirrung schwerer
durchschaubarer Bezugnahmen des Textes.

Das Buch wird durch ausgezeichnet gearbeitete
Literatur-, Hss.-, Autoren- und Zitaten-Register vervollständigt
.

Rostock K.WeiU

KIRCHENGESCHICHTE:
REFORMATIONSZEIT

Maurer, Wilhelm: Kirche und Geschichte. Gesammelte Aufsätze
, hrsg. v. K.-W.Kohls U. O.Müller. I: Luther und das
evangelische Bekenntnis. 435 S.II: Beiträge zu Grundsatz-
fragen und zur Frömmigkeitsgeschichte. 404 S. gr. 8°.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970. Kart, je
DM 38,—; Lw. je 45,—.

Die beiden Bände bringen 33, davon 32 bereits veröffentlichte
Aufsätze, im wesentlichen aus den fünfziger
und sechziger Jahren, theologiegeschichtlichen und biographischen
Inhalts. Ein Grundsatzthema aus dem
Streit zwischen Luther und Erasmus, nämlich über die
Frage der Unerkennbarkeit der maiestas dei, an der sich
das Verhältnis beider zum Humanismus ableiten läßt,
behandelt Maurer unter dem Titel „Offenbarung und
Skepsis" (II, 366-402). Dieser bis jetzt unbekannte
Beitrag liegt in der Linie, die Maurer als „wesentlichen
Neuansatz zum Verständnis der theologischen Auseinandersetzungen
in der Reformationszeit" (1,8) bereits
früher zog. Schon die zwei Untersuchungen über Reformationsschriften
(1949) bringt die Deutung der Reformation
durch Luthers Rezeption der altkirchlichen
Mysterientheologie (dazu in meiner Studie zu Luthers
Theologie nach den Operationes in Psalmos, 1954,
S.36L). Sie begegnet auch in den wichtigen und bekannten
Aufsätzen über die Einheit der Theologie Luthers
(1950) und über die Anfänge von Luthers Theologie
(1952), die am Anfang der Sammlung stehen, etwa mit
der These „Luthers Offenbarungstheologie ist Mysterientheologie
" (1,19) oder mit der Frage an die lutherische
Kirche, „ob diese Kirche die Offenbarung Gottes in
Christus so versteht und so in den Mittelpunkt ihres
Denkens und Lebens hineinstellt, wie die alte Kirche das
getan hat" (1,37). Die „Grundauffassung Luthers vom
Mysterium" der Inkarnation (11,400), das Aufzeigen der
„geschichtlichen", aber im Entscheidenden die Geister
scheidenden Stufe, „die die Anschauung vom christlichen
Heilsmysterium bei Luther und Erasmus erreicht
hat" (402), läßt erkennen, welche zukünftigen Entscheidungen
, die das Schicksal der einen Kirche Christi best
immen werden, zu treffen sind. „Seit dem Siege der
Aufklärung" habe nicht mehr Luther, sondern Erasmus
„die geistige und religiöse Lage Europas bestimmt"
(ebd.).

Maurer vertritt mit Luther das evangelische Bekenntnis
; er will es als Ertrag katholischer Verantwortung
gewürdigt sehen. Um es zu erhalten und künftig fruchtbar
zu machen, bedarf es auch der historischen Kleinarbeit
, die typische geschichtliche Erfahrungen am
konkreten Beispiel herausheben kann und dadurch die
gegenwärtigen Entwicklungen mitbeeinflussen wird;
sofern es dem Historiker gelingt, vergangene „Herzensnöte
und Gewissenskämpfe" den Verantwortlichen für
ihre Entscheidungen bewußt zu machen, könnte für das
Wiederzusammenwachsen getrennter Kirchen sein Beitrag
Bedeutung gewinnen. Maurers Arbeiten sind weithin
beachtet worden und haben für das Vorankommen
auf dem Wege zum genannten Ziel Wirkungen gehabt.
Deshalb hat die Sammlung der Aufsätze auch Sinn für
die Dokumentation zitierfähiger Standortbestimmung
der lutherischen Reformations- und Kirchengeschichtsdeutung
aus den beiden Jahrzehnten vor und neben
Vaticanum II. Ob die Erforschung der Lutherischen Reformation
, wie Maurer sie im Ansatz und dann in der
ekklesio-christologischen Ausprägung darlegt (mit dein
3. bis 9. Aufsatz in Bd.I), mit seiner Deutung, die mit
der von K.Holl und auch R.Hermann nicht immer ttbei
ciiikommt - weil bei Maurer eben „mit dem eigentlich
Reformatorischen wurzelhaft aufs engste" das altkirchliche
Dogma (dem „tragenden Grund" auch „für
die mittelalterliche Theologie") „zusammenhängt"
(60f.) -, ein endgültig gesichertes Ergebnis gewonnen
hat, bleibt fraglich. Immerhin öffnet sich das theologische
Gespräch über Kirche und Geschichte, Bekenntnis
und Unionsbildung bei solchem lutherischen Selbst-
verstlindnis zum ökumetiischen Horizont.

Im begrenzten Rahmen der Besprechung beider Bände
hat es keinen Zweck, die AufsätJ5e im einzelnen zu
nennen, die den Herausgebern aufnahmewürdig waren.
Die Anordnung war nicht einfach; die Bandtitel deuten
nur an. Das Interesse an Ordnungs- und Verfassungs-