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Ausgabe:

1975

Spalte:

772-773

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Fauser, Winfried

Titel/Untertitel:

Der Kommentar des Radulphus Brito zu Buch III De anima 1975

Rezensent:

Weiß, Konrad

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 10

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lieh darauf hin, daß diese betont antigregorianische
Sieht den Königtums wie der faktischen Unabhängigkeit
der einzelnen Landeskirchen im Zusammenhang mit der
Absehnürungspolitik der frühen normannischen Herr-
scher im England des späten ll.Jh.s gesehen werden
muß. Er macht aber zugleich darauf aufmerksam, daß
der unbekannte Vf. dieser Texte seine spätromanisch-
statische Sicht des Königtums und der autarken Landeskirchen
so zugespitzt habe, daß er sich auch in seinem
Umkreis, in dem etwa Ivo von Chartres bereits auf
scholastische Positionen übergegangen war, isolierte,
den Zusammenhang mit der Wirklichkeit seiner Zeit, zu
der nicht zuletzt das seine Oberherrschaft über die
Gesamtkirche juristisch-kanonistisch absichernde
Papsttum gehörte, verlor und deshalb trotz seiner originalen
denkerischen Leistung keine Wirkung auf die
Nachwell ausüben konnte. Pellens wehrt sich auch mit
Recht dagegen, den Vf. dieser Texte im Zusammenhang
mit dem spät mittelalterlichen oder gar dem reformatorischen
Antipapalismus in England zu sehen, da dieser
noch vor der Wende zur Frühgotik und zur Säkularisierung
des Herrschaftsdenkens stehe, so gewiß
einige Elemente der Kirchenkritik ihn mit späteren
Gegnern Roms verbinden. Trotzdem steht sein Werk
in gewissem Maße am Anfang der Gravamina-Literatur
gegen Rom und eröffnet sogar die lange Reihe derer, die
im Papst den Antichrist am Werke seben, ist er doch der
Überzeugung, daß die ecclesia Sathanae in Rom wesentlich
zahlreicher sei als die echte christliche Kirche. Ein
direkter Zusammenhang mit den kontinentalen Vertretern
einer sakralen Kaiserideologie in der Stauferzeit
besteht nicht.

Auch Pellens bezeichnet den Vf. dieser Texte, der
früher als Anonymus von York angesprochen wurde, als
Normannischen Anonymus (NA) und schließt sich damit
der Kennzeichnung an, die sich seit dem in vielem
grundlegenden Werk von George H.Williams in der
Forschung durchgesetzt hat. Er bestreitet nicht eine gewisse
innere Differenzierung der Texte, setzt diese aber
auf das Konto ihrer Unabgeschlossenheit und verschieden
starken Ausfeilung. Ohne daß der Beweis schon
stringent gefühlt werden könne, bleibe die Annahme
einer einheitlichen Abfassung der Texte und ihrer bewußten
Zusammenstellung in pädagogischer Absicht
sowie die Autorschaft eines mit der Normandie verbundenen
Lehrers, der vielleicht Mitglied des Domstifts
in Rouen gewesen sei, die mit Abstand wahrscheinlichste
.

NA bestreitet der Kirche von Rom, daß sie mehr sei
als ein Sprengel unter anderen. Er leugnet nicht, daß es
in der Vergangenheit viele geistliche Päpste gegeben
habe, doch werden diese vom gegenwärtigen Papsttum
abgehoben. Das Petrusamt nach Mt 16,18f., dem gegenüber
die Verheißung an Paulus übrigens viel gewichtiger
sei, sei allen Bischöfen, ja der Kirche als ganzer verliehen
worden. Die Bischöfe als Inhaber gleichberechtigter
Diözesen müssen brüderlich miteinander umgehen
und dürfen einander nicht majorisieren. Der Herrschaftsanspruch
des Papsttums in der Kirche, der zu
Schismen gegen den Geist Christi führt, steht in Analogie
zum Machtdenken des heidnischen Rom.

Sieht NA die Gefahren des papalistischen Zentralismus
hellsichtig, so verfällt er doch selbst der noch
größeren Versuchung, die Kirche seines Landes dem
Königtum auszuliefern, von daher die Einheit der
Kirche in ihrer Wesensgestalt faktisch aufzuheben und
machtstaatlicher Willkür preiszugeben. Er ordnet
König und Bischöfe seines Landes einander auf das
engste zu, so indes, daß dem König die Suprematie auch
in kirchlichen Fragen zukommt, verneint doch NA kategorisch
die Legitimität einer Scheidung des geistlichen

und weltlichen Regiments. Diese Mystifizierung des
Königtums wird vor allem durch alttestamentliche
Vorstellungen über Wesen und Aufgaben des Königtums
abgesichert, in deren Licht auch neutestamentliche
Aussagen gedeutet werden. Die biblischen „Belege"
werden unkritisch mit der Vätertradition in tendenziöser
Auswahl und mit Anregungen aus dem frühmittelalterlichen
lateinischen, dem orientalisch-byzantinischen und
unbewußt wohl auch dem heidnisch-germanischen Bereich
verbunden. Salbung und Weihe des Königs werden
sakramental gedeutet und dem König entsprechend eine
nicht wieder aufhebbare Amtsheiligkeit zugesprochen,
die ihn bevollmächtige, die volle kirchliche Entscheidungsbefugnis
auszuüben. Daß er faktisch durchaus
nicht alle kirchlichen Aufgaben wahrnimmt, ergibt sich
dann nur noch aus Nützlichkeitserwägungen. Die
Bischöfe sind völlig an die königlichen Weisungen gebunden
, denn der König ist kraft seiner sakramentalen
Weihe das Ausstrahlungszentrum der Heiligkeit in der
Kirche. Er ist der christus per gratiam, der in größter
Nähe zum Christus per naturam gesehen wird, ist doch
der alttestamentliche König die Präfiguration der göttlichen
Natur Christi, während der alttestamentliche
Priester nur die Präfiguration der menschlichen Natur
Christi ist.

Diese Sicht des Königtums wird auch dadurch untermauert
, daß NA Taufe und Ehe gegenüber der Priesterweihe
hervorhebt. Diese beiden Sakramente stützen
nämlich nicht etwa das kirchliche Recht des Laien; der
Laie hat vielmehr auch hier in bloßer Passivität zu verharren
, und auch die Mönche sind einschränkungslos
ihrem Diözesanbischof unterstellt . Wohl aber eignen sich
Hervorhebung der allen Christen verliehenen Taufe und
des Ehesakraments vorzüglich dazu, den gregorianischen
Kampf gegen die Priesterehe anzufechten. Der Zölibat
gilt dem NA als besonderes Charisma, das nicht einmal
Für alle Priester verbindlich gemacht werden kann. Neben
dem Gut der Jungfräulichkeit steht gleichberechtigt
das Gut der Ehe, mit dessen Hilfe die Reihen der zum
Heil Prädestinierten aufgefüllt werden. Mit vollem
Recht weist NA daraufhin, daß man das natürliche Gut
der Ehe nicht mit der Unzucht vermengen dürfe, und
wirft den Gregorianern deshalb eine Argumentation
sine discretione vor. Priestersöhnen darf die Priesterweihe
nicht verweigert werden, weil jeder Getaufte die
sakramentale Voraussetzung zum Priesteramt mitbringt
. Positives Gegenbild der Kirche von Rom ist für
NA die Urgemeinde in Jerusalem, von der sämtliche
Apostel ihren Ausgang nahmen; das himmlische Jerusalem
ist zugleich die Zukunftsgestalt der Kirche, die in
den regna der Christenheit schon heute präsent ist.

Rostock Gert Wendelborn

Fauser, Winfried, S. J.: Der Kommentar des Radulphus Brito
zu Buch III de Anima. Radulphi Britonis Quaestiones in
Aristotelis Librum Tertium de Anima. Kritische Edition und
philosophisch-historische Einleitung. Münster/W.: Aschendorff
[1974]. VIII, 331 S. gr. 8° = Beiträge zur Geschichte
der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und
Untersuchungen, hrsg. v. L.Hödl u. W.Kluxen, N.P. 12.
Kart. DM 78,—.

Angesichts der vielen weißen Flecken, die das Feld
der Editionen hoch- und spätmittelalterlicher Texte aufweist
, hat die vorliegende Publikation doppelten Wert.
Sie macht mit einem zentralen Werk eines bedeutenden
Magisters der Philosophie und Theologie an der Sorbonne
aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts bekannt
und ergänzt so das noch unvollständige Bild der in dieser
Zeit des Umbruchs zwischen Hoch- und Spätscholastik